Kein Volk mehr werde sich über ein anderes Volk erheben, betet Rabbiner Alexander Nachama. Es ist eine Vision. Eine Vision, die den Festakt für das Themenjahr »900 Jahre jüdisches Leben in Thüringen« eröffnet. Es sind Worte, die den Menschen im Erfurter Kaisersaal aus der Seele sprechen.
Gebet Um Gebete wird es in diesem Themenjahr ebenso gehen wie um kulturelle, interreligiöse und wissenschaftliche Veranstaltungen – um jüdischen Alltag eben. Zu diesem Alltag gehört auch, dass vor dem Kaisersaal mehrere Polizeiwagen und ein Spürhund postiert sind. Das ist keine übertriebene Vorsicht, wie der Angriff auf die Synagoge in Halle 2019 zeigte.
Die Gäste, die an diesem Abend in den Kaisersaal gekommen sind, gehen achtsam miteinander um – nicht nur wegen des notwendigen Abstands in Corona-Zeiten. Der Anstand gebietet es. Da sind sich alle einig: Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Reinhard Schramm, Vorsitzender der Jüdischen Landesgemeinde, Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow, Bischof Ulrich Neymeyr, Landesbischof Friedrich Kramer, Landtagsabgeordnete und natürlich die Mitglieder der Jüdischen Landesgemeinde.
freunde Dass es dieses Themenjahr gibt, ist drei Freunden zu verdanken. Freunden, die sich nach der Reformationsdekade 2017 zusammengesetzt haben: die einstige Bischöfin Ilse Junkermann, Bischof Ulrich Neymeyr und Reinhard Schramm. Sie debattierten die Frage: »Warum sprechen wir so wenig über das Leben der Juden?« Einen Grund finden sie nicht. So wird die Idee für das Themenjahr geboren. »Das Themenjahr macht es möglich, dass die von den Nazis geschlagene Lücke über das Leben und die Leistung von Jüdinnen und Juden geschlossen werden kann«, sagt Schramm. Er setzt auf wachsenden Dialog und eine Zukunft ohne Antisemitismus.
»Seit es Juden hier in Deutschland gibt, gibt es Antisemitismus«, sagt Josef Schuster.
Darauf hofft auch Zentralratspräsident Josef Schuster. Allerdings verweist er in seinem Vortrag darauf, dass es bereits kaum für möglich zu halten war, dass solche Jahrhundertjubiläen überhaupt begangen werden können. »Es ist ein Wunder, weil Juden fast 900 Jahre lang von großen Teilen der Bevölkerung nicht als Nachbarn akzeptiert wurden«, stellt er fest.
Hass »Seit es Juden hier in Deutschland gibt, gibt es Antisemitismus.« Der Hass sei wie ein Virus mutiert und zeige sich in immer neuen Erscheinungsformen. Selbst die Aufklärung habe der Antisemitismus überlebt. Natürlich können in diesem Kontext die antisemitischen Äußerungen Martin Luthers nicht unerwähnt bleiben. Noch 400 Jahre später wird Luther von den Nazis als Begründung für das Brennen der Synagogen und das Morden herangezogen.
Doch der Zentralratspräsident verweist auch darauf, dass »die christlich-jüdischen Beziehungen in Deutschland mittlerweile auf einem Niveau sind, wie man das vor einigen Jahrzehnten noch für unmöglich gehalten hätte«. Er bedankt sich dafür, dass die Deutsche Bischofskonferenz das Nostra Aetate (Erklärung der Kirche über ihr Verhältnis zu anderen Religionen) mit Leben erfüllt. Schuster betont, dass das Judentum und sein bereichernder Beitrag zur deutschen Geschichte stärker in den Fokus genommen werden sollte.
Mendelssohn, Heine, Einstein und Arendt waren bedeutende Vertreter aus Kunst, Kultur und Wissenschaft.
Ausdrücklich bedankt er sich dafür, dass ab dem Jahr 1990 Juden aus der Sowjetunion nach Deutschland gekommen sind. »Ohne diese Gemeindemitglieder, ohne diese Frischzellenkur, säßen wir heute nicht hier«, lautet sein Fazit. Er bedankt sich bei dem inzwischen verstorbenen Ehrenvorsitzenden der Erfurter Gemeinde, Wolfgang Nossen, und bei Reinhard Schramm für ihren Beitrag zum Zusammenwachsen der Gemeinden.
Die Bekämpfung des Antisemitismus, so Schuster weiter, »bleibt eine Herkulesaufgabe. Bei diesem Kampf geht es nicht nur um uns Juden. Da geht es auch um unsere Demokratie, unsere Grundrechte und unsere Freiheit als Bürgerinnen und Bürger«.
Schuster plädiert für den interkulturellen Dialog und für veränderte Schulbücher, in denen die Geschichte der Juden nicht nur mit der Schoa erklärt wird, und für persönliche Begegnungen. Gute Schulbildung und persönliche Begegnungen wie bei den Zentralratsprojekten »Meet a Jew« oder »Schalom Aleikum« können Brücken sein, miteinander statt übereinander zu sprechen.
Jiddisch Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow darf das Themenjahr in Thüringen offiziell eröffnen. Er tut dies mit Humor und spricht von Schlamassel und Maloche und Zocken und Schäkern. Diese Worte gefallen ihm ganz offensichtlich mehr als die vielen Alltagsanglizismen.
Ramelow verweist darauf, wie selbstverständlich jüdisches Leben in Thüringen seit Jahrhunderten ist. Sei es Eduard Rosenthal, der die Grundlagen für die Verfassung schuf, Wilhelm Peters, der bedeutende Psychologe, oder der Gartenbauunternehmer Ernst Benary – Leistungen jüdischer Deutscher gehören seit jeher zum Thüringer Alltag.
Ramelow plädiert dafür, natürlich auch künftig an die Schoa zu erinnern, eine »180-Grad-Wende« dürfe es nicht geben. Vor allem aber müsse man jüdisches Leben heute in den Fokus nehmen. Dazu zählen die drei jüdischen Festivals in dem kleinen Bundesland und die Torarolle, die von den beiden großen Kirchen als Geschenk an die jüdische Gemeinschaft in Auftrag gegeben wurde und jetzt neu geschrieben wird.
Jascha Nemtsov, Professor für jüdische Musikgeschichte in Weimar, führt durch ein Konzert mit Musik und Instrumenten aus mehreren Jahrhunderten. Das Ensemble »Simkhat hanefesh« (Freude der Seele) bietet Musik aus der Zeit der Renaissance und des Barock. Unterstützt von Kantor Isidoro Abramowicz aus Berlin und der Kantorenstudentin Shulamit Lubowska, führt Nemtsov Synagogalmusik aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf.
Heller Nemtsov, der europaweit den ersten Lehrstuhl für jüdische Musikgeschichte in Weimar an der Franz-Liszt-Hochschule innehat, hat sich auf die Suche nach vergessenen jüdischen Komponisten aus Thüringen begeben. Auf diese Weise entdeckte er Hans Heller, der in letzter Sekunde der SS in Frankreich entkommen konnte. 2021 wird Nemtsov während der Achava-Festspiele Hellers Symphonie im Erfurter Dom uraufführen. Während des Konzerts am Eröffnungsabend des Jubiläumsjahres im Kaisersaal bietet er das Finale aus der Klaviersonate op.3 von Heller. Nemtsov symbolisiert jüdisches Leben im Bereich Kunst und Wissenschaft auf prägnante Weise.
Jascha Nemtsov ist die Zusammenarbeit zwischen der Musikhochschule Weimar und Philadelphia zu verdanken.
Dank ihm gibt es – mit Unterstützung der Landesregierung – ein Projekt zwischen der Musikhochschule Weimar und Philadelphia. Dort lagert die Musiksammlung von Arno Nadel und anderer Künstler, deren Musik bald zum Alltag in deutschen Synagogen gehören könnte. Zum Abschluss des Konzerts tritt das Yiddish Summer Weimar Ensemble unter der Leitung von Alan Bern auf. Und nach wenigen Minuten folgt das Publikum den mitreißenden Klängen. So ist es Bern, so sind es die Künstlerinnen und Künstler des Yiddish Summer Weimar seit 20 Jahren gewohnt.
Wären nach dem Festakt auf der Straße notwendigerweise nicht die vielen Polizeiwagen und Personenschützer präsent, hätte man beschwingt in dieses Themenjahr gehen können. Die Vision vom überwundenen Antisemitismus und der interreli-giösen Akzeptanz aber ist mehr: Es ist ein Gebet für das Leben.