Wenn mich jemand fragt, wie es mir geht, sage ich: Danke, keine Zeit zu klagen! Mit 65 Jahren wäre ich eigentlich fast Rentner. Doch dafür habe ich zu viel zu tun. Im vergangenen Herbst ist mein Buch über die letzten Jahre des Dichters Ossip Mandelstam erschienen. Außerdem gab es viele Medienanfragen zu meinen Forschungen über Marcel Nadjari, einen griechischen Juden, der Mitglied des sogenannten Sonderkommandos in Auschwitz war.
Seit Jahrzehnten schreibe und veröffentliche ich Bücher und Aufsätze als Geograf, Historiker, Migrationsforscher und Literaturwissenschaftler.
Einen Teil des Jahres verbringe ich in Moskau, wo ich geboren und aufgewachsen bin. In Russland bringe ich meine Bücher gut unter. Die meiste Zeit aber lebe ich mit meiner Frau in Freiburg. In Deutschland ist das Veröffentlichen schwieriger. Ich lebe nicht nur in zwei Ländern, sondern auch mit zwei Namen: Als Literaturwissenschaftler bin ich Pavel Nerler, sonst heiße ich Pavel Polian.
glück Zum Glück brauche ich nicht viel Schlaf. Fünf Stunden, das reicht. Morgens um fünf Uhr stehe ich auf. Mein Arbeitsplatz ist am Laptop, ganz egal, ob ich in Moskau oder in Freiburg bin. Ich gehe viel in Archive und Bibliotheken. Und ich bestimme alles selbst: Mein Chef ist in meinem Kopf. Wenn ich nicht arbeite, entspanne ich gern in russischen Bädern, die gibt es leider in Freiburg nicht. Deswegen gehe ich dort stattdessen fast täglich mit meiner Frau spazieren. In Moskau bin ich weniger in der Natur, dafür mehr bei meinen alten Freunden. Bei ihnen wohne ich auch, denn ich habe dort keine Wohnung mehr.
Ich lebe schon lange in Freiburg. Seit 1991, als ich mit meiner Frau und meinem damals 14-jährigen Sohn mit einem Humboldt-Stipendium zum Institut für Kulturgeografie kam, zunächst für zwei Jahre. Es gefiel uns. In dieser Zeit emigrierten viele Juden nach Deutschland. Da schlossen wir uns ihnen an. Aber ich konnte immer die Verbindung zu Moskau halten. Ich reise oft dorthin, zum Forschen, zu Tagungen, für Projekte. Die Stadt hat sich sehr verändert, sie ist mir fremder geworden. Sie ist weniger gemütlich als früher. Doch sie ist nach wie vor eine der interessantesten Weltstädte. Und Freiburg ist zwar klein, aber nicht langweilig.
Anfangs mussten wir uns an manches dort erst gewöhnen, vor allem an die deutsche Ordnung. Wir schätzten sie, trotzdem war es eine Umstellung. Wir wollten hier bleiben, weil unser Sohn in Deutschland bessere Chancen hat. Er ist inzwischen Informatikprofessor in Stuttgart. Meine Frau ist Architektin, sie konnte leider in Deutschland nicht mehr in ihrem Beruf arbeiten. Ich verdanke ihr sehr viel. Kleine Hilfen, vor allem aber das Wichtigste: Liebe, Verständnis und viele Gemeinsamkeiten. Sie ist die Basis für mein Glück.
mandelstam Mit mir und Ossip Mandelstam fing alles 1969 an, in einem Kurs der Geografischen Fakultät an der Moskauer Universität. Dort lernte ich meinen Freund Nikolaj Pobol kennen, und durch ihn Mandelstams Gedichte. Ich verliebte mich in sie.
Mandelstam war ein Genie. Er reagierte auf das, was politisch um ihn herum passierte, vor allem auf die Diktatur von Stalin. Die Hauptsache aber ist: Seine Gedichte sind so schön! Durch den Pianisten Aleksej Ljubimow kam ich mit Nadeschda Jakowlena Mandelstam in Kontakt, der Witwe Mandelstams. Und ich begegnete auch einigen anderen Menschen, die ihn gekannt haben.
Als ich anfing, über ihn zu schreiben, war er noch nicht gut erforscht. Inzwischen bekommt er viel größere Beachtung. Nach mehreren Büchern und noch mehr Aufsätzen von mir über ihn ist im Herbst mein neuestes Buch über seine letzten Jahre erschienen. Unter anderem habe ich seine Zeit in einem sowjetischen Lager und die Verhörprotokolle erforscht.
Mein nächstes Ziel ist eine vollständige Biografie. Wenn ich über Mandelstam schreibe, dann bin ich Pavel Nerler, nicht Pavel Polian. Ich habe mir Mitte der 70er-Jahre dieses Pseudonym für meine literaturwissenschaftlichen Veröffentlichungen zugelegt, weil ich mich ein bisschen verstecken wollte, auch aus politischen Gründen.
reisen Das Reisen habe ich immer geliebt. Auch deshalb hat mich die Geografie gereizt. Sie war eines meiner Lieblingsfächer in der Schule. Ich bin 1952 in Moskau geboren, ich lebte hinter dem Eisernen Vorhang. Aber es gab Russland, dort konnten wir uns frei bewegen, und das Land ist groß und attraktiv.
Als Jude in Russland waren manche Dinge für mich schwerer als für andere. Manchmal habe ich Antisemitismus im Alltag erlebt, zum Beispiel, wenn im Sommerlager Beleidigungen wie »jüdische Fratze« als normal galten. Vor allem aber war der Antisemitismus an den Übergängen im Leben spürbar. Ich hätte keine Chance gehabt, an die Uni zu kommen, wenn ich die Zugangsprüfungen für Geografie nicht exzellent bestanden hätte. Und nach dem Abschluss hatte ich Mühe, Arbeit zu finden, obwohl es in Russland eigentlich garantierte Arbeitsplätze gab. Nach einem Dutzend Absagen hatte ich Glück: Ich konnte an der Russischen Akademie der Wissenschaften arbeiten.
Zur Geschichte kam ich als Geograf über mein Interesse an Migration und Bevölkerungsgeografie. Ich fing an, mich mit Deportationen und Zwangsmigration in Russland im 20. Jahrhundert zu beschäftigen. Das war damals ein Tabu. Ich war einer der Ersten, die in den russischen Archiven in diese Richtung forschten. Das war nicht leicht. Aber ich war jung und optimistisch, und man konnte in den Archiven kämpfen, wenn man etwas Bestimmtes brauchte. In der Zeit von Michail Gorbatschow und Boris Jelzin wurde dann auch alles etwas offener.
sonderkommando Als Historiker erforschte ich die Schicksale von sowjetischen Kriegsgefangenen und Zwangsarbeitern. Sie wurden Opfer von zwei Diktaturen, zuerst im Nationalsozialismus, und dann nach ihrer Rückkehr als »Vaterlandsverräter« in der Sowjetunion. Im NS-Dokumentationszentrum in Köln war ich an einem Projekt über Zwangsarbeit beteiligt. Irgendwann bei meiner Beschäftigung mit dem Holocaust stieß ich auf eine Liste von Mitgliedern des Sonderkommandos in Auschwitz-Birkenau. Das waren überwiegend jüdische Häftlinge, die Hilfsdienste beim Massenmord leisten mussten. Im Oktober 1944 gelang ihnen ein Aufstand, und sie schafften es, eines der Krematorien zu zerstören. Nur wenige von ihnen überlebten.
Einige hatten Aufzeichnungen für die Nachwelt im Boden vergraben. Zu ihnen gehörte der griechische Jude Marcel Nadjari. Er überlebte und starb 1971 im Alter von 53 Jahren. Erst neun Jahre nach seinem Tod, im Oktober 1980, fand ein Student bei Grabungen zufällig sein Manuskript von 13 Seiten. Marcel Nadjari hatte es in einer Thermosflasche verschlossen und zusätzlich in eine Ledertasche eingewickelt.
Wahrscheinlich hatte Marcel Nadjari den Text im November 1944 geschrieben, als es Gerüchte über eine Liquidation des Sonderkommandos gab. Zunächst war sein Text kaum mehr entzifferbar. Doch im Winter 2015 hat sich nach einer Radiosendung in Russland der junge IT-Spezialist Aleksandr Nikitjaev aus Tula bei mir gemeldet. Gemeinsam haben wir es geschafft, die Scans des Manuskripts so zu bearbeiten, dass nun 90 statt früher zehn Prozent lesbar sind.
Inzwischen haben viele Medien das Thema aufgegriffen und mich interviewt. Jetzt müsste es schnell vorangehen, um auch die Texte der anderen vier Mitglieder des Sonderkommandos besser erschließen zu können. Sie sind stark bedroht vom weiteren Verfall.
buch Auch in Freiburg lassen mich die Geschichten der Zeitzeugen nicht los. Dort habe ich für die Jüdische Gemeinde zwölf Lebensgeschichten von Gemeindemitgliedern im Buch Jüdische Schicksale zusammengefasst. Darunter sind auch die Schicksale meiner Eltern, die 1998 aus Moskau zu mir nach Freiburg zogen. Mein Vater war Direktor eines Forschungsinstituts für Prothesen, meine Mutter Volkswirtin und Ingenieurin. Sie wurden beide fast 90 Jahre alt, sie starben 2011 und 2012. Ihre Jahre in Freiburg, wo sie im Betreuten Wohnen lebten, waren eine glückliche Zeit für sie.
Eines meiner Projekte für die Zukunft ist ein umfassendes Buch über die jüdische Auswanderung und über die Deportationen. Zuerst aber beschäftige ich mich noch mit einer Mandelstam-Enzyklopädie. Früher fiel mir das Umschalten zwischen meinen verschiedenen Themen leichter als jetzt. Wir werden eben nicht jünger.