»Sehen Sie auf dem Namensschild einen Vornamen?« Tom, der Tourguide durch das jüdische Berlin, deutete auf den Wachmann im Bode-Museum. Er nahm ihn als Beweis dafür, dass man in Deutschland nicht zu Vertraulichkeiten neigt, während man seinen Job ausübt. Der studierte Historiker machte seine Gruppe satirisch überspitzt mit den Deutschen von heute und ihren Eigenarten vertraut: Förmlichkeit, Effizienz, Pünktlichkeit, schwacher Humor. Ein amüsanter Schlusston nach drei Tagen intensiver Begegnungen zwischen jungen Juden aus ganz Europa.
Eingeladen zu dem Treffen »Jewish Journeys in a Secular World« hatten drei Partner aus dem progressiven Judentum: die internationale Dachorganisation junger Erwachsener TaMaR, die britische Initiative TENT und – federführend – Jung und Jüdisch Deutschland. Es solle für die Teilnehmer eine von vielen künftigen Reisen sein auf dem lebenslangen Weg, die eigene jüdische Identität zu entwickeln, meinte Lea Mühlstein, Rabbinerstudentin am Londoner Leo Baeck College und Vorstandsmitglied von Jung und Jüdisch. Mehr als 60 junge Juden aus allen Teilen Europas kamen in das Tagungshotel im Spandauer Johannisstift, 20 von ihnen aus Deutschland.
Selbstverteidigung Im Wartburgsaal des Hotels roch es am frühen Freitagnachmittag nach frischem Schweiß. Nach den ersten Debatten lockte die meisten Teilnehmerinnen und Teilnehmer die Möglichkeit, gemeinsam eine Verteidigungstechnik aus Israel auszuprobieren. Imrich Lichtenfeld hatte sie vor rund 90 Jahren im heutigen Bratislawa entwickelt. Anlass dafür waren wiederholte antisemitische Ausschreitungen. Juden sollten künftig über ein natürliches Mittel verfügen, um sich wehren zu können: Kraw Maga, hebräisch für Kontaktkampf. Diese Verteidigungskunst steht für etwas, was der neue Schaliach für die Zionistischen Jugendorganisationen in Deutschland, Roy Siny, den Muskeljuden nannte – die israelische Alternative zum körperlich schwachen, aber gelehrten und intellektuellen Juden, der einst für Europa so typisch war.
Israel Dass es ein jüdisches Selbstverteidigungssystem aus Israel gibt, war für viele an diesem letzten Oktoberwochenende eine Entdeckung. Darüber, wie Israel aber ansonsten als Vorbild taugt, herrschten unterschiedliche Ansichten, sowohl im Plenum als auch unter den Referenten. Rabbiner Rich Kirschen vom Anita-Saltz-Center der World Union for Progressive Judaism in Jerusalem warb für die jüdische Alltagskultur in Israel. Nur dort seien der Schabbat sowie die jüdischen Fest- und Feiertage ein selbstverständlicher Bestandteil des öffentlichen und privaten Lebens. Nicht einmal Nichtjuden könnten sich dem entziehen.
Säkular Eine Tendenz zum Säkularismus gibt es allerdings hier wie dort. Das sei nichts, was sie schrecken könnte, meinte die liberale Rabbinerin, Judith Rosen-Berry. Sie sei selber säkular, und ihre Gemeinde auch. Der Komponist und jüdische Aktivist Joseph Finlay aus London sprang ihr bei und wagte sogar die These: »Juden haben im 19. Jahrhundert den säkularen Staat erfunden. Eine Art neutralen öffentlichen Raum mit freier Presse und Universitäten, wo Menschen sich treffen können, unabhängig von Volks- und Religionszugehörigkeiten und Aristokratie.« Die Gesellschaft dagegen sei keinesfalls säkular, sondern huldige unabhängig von ihren Religionszugehörigkeiten vielen Göttern, zum Beispiel der Idee des perfekten Marktes.
Man könnte auch die Fankulturen um den Fußball als Beispiel heranziehen. Roy Siny scharte am Samstagnachmittag die größte Gruppe von Zuhörern um sich, als er die Entwicklung der großen Fußballvereine in Israel schilderte. Sie hätten eine starke Bedeutung für die Ausprägung jüdischer Identität, hat er beobachtet, zumindest in Israel. Durch die Ideologien und das Auftreten der Fans würden die Vereine quasi spiritualisiert – allerdings in extremen Formen.
Liberal Grenzen ziehen oder Grenzen überschreiten ist das Thema, das Gemeinden und Rabbiner in den liberalen jüdischen Strömungen häufiger als etwa in den orthodoxen Bewegungen beschäftigt. Eine Teilnehmerin aus Tschechien war fasziniert davon, erstmals eine Rabbinerin im Gottesdienst zu erleben. Für die progressiven Gemeinden Polens ist das bereits Normalität: Sie werden von einem Rabbiner betreut, der aus den USA kommt und einer Rabbinerin, die aus Moskau stammt. Schwieriger dagegen ist die Frage, wer sich einer jüdischen Gemeinde anschließen darf. In Israel legt das Oberrabbinat die Anforderungen fest. In der Diaspora handeln die unterschiedlichen Gemeinden nach eigenen Kriterien. Dass ein Übertritt zum Judentum eines Beit Din bedarf, eines Rabbinergerichts, leuchtete vielen jungen Leuten in Spandau nicht ein.
Die Grenze nach Deutschland zu überschreiten, kostete einige Teilnehmer etwas Überwindung. Doch überwog die Neugier auf vier Tage Gemeinschaft mit jungen Juden. Für die meisten aber war Berlin ein ohnehin attraktives Ziel. Eine junge Polin bekannte, dass sie jetzt das Gefühl habe, dass Berlin heute eine Stadt wie andere sei. Es gebe jetzt wieder jüdisches Leben: »da ist nichts Schlimmes mehr«. Für Joshua Edelman aus Dublin »ist Berlin eine der dynamischsten und aufregendsten Städte in Europa. Keine perfekte Stadt, aber gerade deshalb spannend.«