Porträt der Woche

Zwischen den Welten

»Eine Frau ist so alt, wie sie sich fühlt«: Bella Liebermann lebt in Köln. Foto: M. Bause

Einen passenden Titel für ein Buch zu finden, ist schwieriger, als es zu schreiben. Doch bei »Kupfermeer« wusste ich sofort, dass das Wort perfekt ist – denn so nannte man im Jerusalemer Tempel ein Gefäß, in dem sich der Priester die Hände waschen musste, bevor er das Opfer darbrachte. In dem Roman zeige ich ein breites Panorama des jüdischen Lebens im Zarenreich im 19. Jahrhundert auf, und zwar das ukrainische »Schtetl«, das lebendige Moskau, den Hof eines jüdischen Zaddiks und die brutale Armee.

Vor diesem Hintergrund erzähle ich das tragische Schicksal des Kantonisten Itzik, der als Kind entführt, zwangsrekrutiert und zum Opfer wurde. Die Geschichte dieses Kantonisten ist weitestgehend unbekannt. Das Buch stelle ich am 18. Oktober beim Projekt Impuls in Berlin vor.

Mein Leben ist vielseitig und spannend. Ich arbeite an zwei Orten, einmal in Köln in meiner Wohnung und außerhalb der Stadt mit meinem Mann in einem Haus mit Garten. Hier schreibe ich Texte und Bücher, bin Forscherin und Interpretin jüdischer Musik mit dem Ensemble Kol Colé, komponiere Musik zu Psalmen und arbeite als Sozialpädagogin. Wenn es mich gepackt hat, dann bin ich unermüdlich.

Ich bin neugierig und möchte noch weitere Themen aufarbeiten und vorstellen. Habe ich aber Stress, arbeite ich im Garten. Dann pflege ich meine Pflanzen und zupfe Unkraut. Oder ich wandere im wunderschönen Siebengebirge. Dann lasse ich den Stress des Tages hinter mir. Richtig ausspannen kann ich allerdings nur am Schabbat.

Was mich immer wieder begeistert und eine Dominante in meinem Leben ist, ist die jüdische Kultur in Osteuropa. Von klein auf hörte ich osteuropäische Volksmusik, Klassik und Klezmer. Als kleines Mädchen träumte ich davon, Klavier zu spielen, und bekam schließlich auch eines von meinem Opa spendiert. Jedes »brave« Mädchen sollte Klavier spielen, so war damals die gängige Meinung.

In Russland geboren – in der Ukraine augewachsen

Ich wurde in Nowosybkow, Russland, geboren und bin in Nowhorod-Siwerskyj (Nord-Ost-Ukraine) aufgewachsen. Diese zwei Städte sind etwa 150 Kilometer voneinander entfernt, aber jetzt trennt sie eine Frontlinie. Das tut mir weh. Auf eine 1000-jährige Geschichte blickt diese malerische ukrainische Stadt zurück. Hier haben meine Vorfahren etwa 200 Jahre lang gelebt. Ein Drittel der Bevölkerung am Anfang des 20. Jahrhunderts war jüdisch. Derzeit schreibe ich über das traditionelle Leben in dieser ukrainischen Stadt einen Essay, und zwar auf Wunsch des dortigen Heimatmuseums.

Nach der Schule studierte ich an der Musikakademie in Minsk Klavier, Musikpädagogik und Musikwissenschaft. Damals war das ein zugänglicher Beruf – Juden waren nicht in allen Studiengängen zugelassen. Aber ich spürte auch von klein auf eine Leidenschaft für die Literatur. Bereits als junges Mädchen habe ich angefangen, Texte zu schreiben.

Das Musikstudium wurde uns erlaubt, eine spätere Karriere meistens nicht.

Das Studium war allerdings sehr schwer für mich, da meine Vorkenntnisse aus der provinziellen Musikschule und aus dem Musikkolleg nicht ausreichten und ich viel nachholen musste, oft auf Kosten meiner Gesundheit, die unter dem vielen Üben etwas litt. Auch meine jüdische Herkunft war ein Hindernis, sie stand im Personalausweis, egal, woher man stammte. Die jüdischen Studenten, die auswandern wollten, wurden öffentlich als »Heimatverräter« verurteilt. Das Musikstudium wurde uns erlaubt, aber eine spätere Karriere zumeist versagt.

Nach dem Studium bin ich nach Kischinew in Moldawien gezogen. Dort habe ich geheiratet und bekam zwei Kinder. In Kischinew bestand immer eine sehr spannende Mischung aus verschiedenen Kulturen. Ich erinnere mich, wie Menschen im Stadtpark saßen und Jiddisch sprachen. Als Musiklehrerin und Journalistin konnte ich schließlich arbeiten. Mein Mentor im literarischen Bereich ist der jiddische Schriftsteller Ihil Schreibman geworden, der mich stets inspirierte, Bücher zu schreiben. Doch während des Bürgerkriegs in Moldawien wurde es unmöglich, in diesem Land zu bleiben, deshalb flohen wir 1994 und kamen nach Thüringen. Das Wohnheim war eine ehemalige Kaserne der DDR. Im früheren Pferdestall eines nahen Dorfes erhielt ich meinen ersten Deutschunterricht. Später zogen wir nach Köln. Allerdings hatte ich damals keine klare Vorstellung davon, wie meine Zukunft aussehen könnte. Aber wir haben diesbezüglich einen Begriff für unsere Lebensphilosophie: Vertrauen. Außerdem ist ein Wechsel der Lebensumstände nichts Neues für das jüdische Volk. Schließlich spricht fast jeder in der dritten Generation nicht mehr die Sprache der Urgroßeltern.

Musik- und Kunstlehrer sollten besser entlohnt werden

Täglich erfahre ich immer noch Neues. Ich lerne, das nicht als dramatische oder belastende Erfahrung zu werten, sondern als Herausforderung zu betrachten, und stelle mich ihr. Als ich in Köln wieder arbeiten konnte, gab ich an einer Musikschule Klavierunterricht. Allerdings habe ich feststellen müssen, dass dies hier ein Luxus ist und bei der Erziehung der Kinder keinen hohen Stellenwert hat. Menschen, die mit Kunst oder Musik beschäftigt sind, werden nicht entsprechend entlohnt.

Ich wollte mehr und konnte schließlich mithilfe der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland Sozialarbeit studieren. In meiner Diplomarbeit griff ich als Thema die Erfahrungen von Holocaust-Überlebenden auf, die über ihre Traumata sprachen. Dazu habe ich ein Fachbuch veröffentlicht. In meinem sozialen Beruf habe ich mit ehemaligen Zuwanderern zu tun. Durch meine musikalische Tätigkeit und Lebenserfahrungen meine ich, dass ich auch Empathie für meine soziale Tätigkeit entwickelt habe.

Ich selbst würde mich als traditionell, aber nicht als fromm bezeichnen. Mein Lieblingsspruch stammt von Rabbi Hillel, der in der Antike gelebt hat: »Was du nicht möchtest, das jemand dir antut, das tue auch du keinem an.«

Natürlich verbringe ich viele Stunden mit Musik. Mit der Klezmergruppe Kol Colé, die ich mitbegründet habe, stehe ich oft auf der Bühne. Wir sind Musiker aus der Ukraine und Deutschland, haben aber auch einen kurdischen Kanunspieler aus Syrien mit im Ensemble und machen zusammen Musik – auch mit sefardischen Stücken. Highlights waren unsere Konzerte in Marokko und Spanien. Derzeit beziehen wir ukrainische Musiker mit ein, die vor dem Angriffskrieg geflüchtet sind.

Das Land, in dem ich geboren wurde, gibt es nicht mehr. Mit meinem Schtetl verbinde ich natürlich ein Gefühl der Geborgenheit in einer friedlichen Nachbarschaft. Der Freundeskreis bestand aus Menschen verschiedener Herkunft. Ich bin glücklich, dass ich dort aufwachsen durfte. Die jüdische Kultur war präsent.

Meine Mutter war Erzieherin, ihre Familie stammt aus Belarus, zum größten Teil ist ihre Familie im Ghetto umgekommen. Mein Vater war Physiker, er studierte in Charkiw an der Universität. Seine Erinnerungen über das jüdische Leben in Nowhorod-Siwerskyj habe ich in der Ukraine vor dem Krieg publiziert. Zu Hause sprachen wir Jiddisch und Russisch, auf der Straße Ukrainisch, meine Großmutter hingegen nur Jiddisch und ein wenig Russisch und Ukrainisch. Die jüdischen Traditionen hat mir mein Vater vermittelt.

Während des Studiums hat mein Kontakt mit der Familie zwar an Intensität verloren. Aber ich hatte immer das Gefühl, dass meine Biografie vor meiner Geburt beginnt. Dieses Gefühl entsteht durch die Verbindung mit der Familie und deren Geschichte. Die Erinnerung an das damalige Leben im Schtetl ist für mich eine dauerhafte Quelle der Inspiration geblieben. Bis heute gibt mir diese Quelle immer noch Kraft. In diesem Schtetl sind meine Wurzeln und meine seelische Heimat, obwohl niemand meiner Familienangehörigen noch dort lebt.

Im Rheinland sind die Menschen offen

Mein jüngstes Buch hat den Titel Eine Rose auf dem Weg und ist nach einem Lied von Eliakum Zunser benannt. Schon in meiner Studienzeit faszinierten mich jiddische Lieder, die ich anfing zu sammeln. Ich habe seinerzeit 20 Lieder von der Sängerin Basia Bertam in Baranovici in Belarus aufgenommen. Einige von ihnen wurden in dem Buch zum ersten Mal veröffentlicht. Hier analysiere ich sowohl die Lieder als auch verschiedene Aspekte des jüdischen Lebens in Bezug auf den Inhalt und die Biografien der Autoren.

Ich lebe gern im Rheinland und in Köln – die Menschen sind offen, und das könnte ich auch von der jüdischen Kultur behaupten. Hierfür steht der Begriff »freilach« als aktive, erlebte Freude. Bei Klezmermusik ist es auch viel Freilach. Manchmal zeigt es mir, dass ich zwischen mehreren Welten schwebe. Es ist ein schöner Zustand, man kann mehr sehen.

Aufgezeichnet von Christine Schmitt

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