Vier von fünf Juden in Deutschland haben ihre Wurzeln in der ehemaligen Sowjetunion. »Kulturell und religiös« vielfältiger sei das jüdische Leben mit der vor einem Vierteljahrhundert einsetzenden Einwanderung geworden, heißt es in der Einladung zu einer Buchvorstellung im Jüdischen Museum in Berlin. Der Sammelband Russisch-jüdische Gegenwart in Deutschland, entstanden im Rahmen des ersten Fellowship-Programms des Museums, hat eine gewichtige Stärke: Seine Autoren schreiben nicht nur über russisch-jüdisches Leben, sie gehören der als solche nicht immer wahrgenommenen Mehrheit auch größtenteils selbst an.
Doch bereits über das Etikett »russisch-jüdisch« besteht Diskussionsbedarf: Trifft es wirklich auf all die Menschen zu, die seit Anfang der 90er-Jahre aus der Sowjetunion nach Deutschland kamen, und auf deren Kinder? »Russischsprachig« wäre die passendere Bezeichnung, gibt Herausgeberin Karen Körber unumwunden zu, aber dem Verlag war der Begriff für den Buchtitel zu sperrig.
Neuland Die Ankunft dieser Einwanderer in Deutschland glich der auf einem neuen Planeten – das ist die Quintessenz des künstlerisch-wissenschaftlichen Werkes der Frankfurter Professorin Julia Bernstein. Die Ankunft auf einem neuen Planeten ist denn auch der Titel einer Collage von Bernstein, die im Jüdischen Museum ausgestellt ist und zugleich das Cover des Sammelbandes ziert.
Unter den vielen Passagieren, die dort etwas orientierungslos vor einem Flugzeug stehen, ist auch Aljonka. Das Mädchen mit dem Kopftuch ziert in Russland Schokoladentafeln, ihr Gesicht ist dort mindestens so bekannt wie in Deutschland der Junge von der Kinderschokolade. Das Material von Bernsteins Werken sind Verpackungen von Lebensmitteln aus der ehemaligen Sowjetunion – und die Erzählungen der ersten Generation nach Deutschland eingewanderter Juden.
Während Bernstein die Zitate aus den Interviews vorliest, die ihren Fotos zugrundeliegen, entsteht das Bild einer urbanen, säkularisierten und bildungsbewussten jüdischen Mittelschicht in der Sowjetunion, die ihren Status mit der Ankunft in Deutschland verlor und ganz von unten anfangen musste. Ganz anders die zweite, in Deutschland geborene Generation: Viele von ihnen gelten heute, wie die Migrationsforscherin Darja Klingenberg herausarbeitet, als »Vorzeige-Migranten«.
Und doch haben sie noch lange nicht den Platz im jüdischen Gemeindeleben hierzulande eingenommen, der ihnen rein zahlenmäßig zustünde. Einer Online-Umfrage mit dem Titel »Lebenswirklichkeiten« zufolge, die die Soziologin Karen Körber 2014 bundesweit für das Jüdische Museum Berlin durchführte, gaben von 268 befragten Zuwanderern in der Altersgruppe zwischen 20 und 40 Jahren 40,8 Prozent an, Mitglied einer Einheitsgemeinde zu sein. 13,5 Prozent fühlten sich Chabad Lubawitsch oder »Lauder« zugehörig, 6,4 Prozent gaben an, Mitglied einer liberalen Gemeinde zu sein. Weit mehr als ein Drittel (37,1 Prozent) gehört der Umfrage zufolge gar keiner Gemeinde an.
Selbstdefinition Jüdische Identität – auch das ein Ergebnis der Umfrage – definiert die junge Generation mehrheitlich in erster Linie ethnisch (51 Prozent) oder aber als kulturelle Gemeinschaft (23,9 Prozent). Das Judentum als Religionsgemeinschaft steht nur für 13,1 Prozent der Befragten an erster Stelle. Dies ist – das machte die Diskussion deutlich – auch ein Erbe sowjetischer Politik, die Judentum als Volkszugehörigkeit definierte, gleichzeitig aber eine Herausforderung an den bundesrepublikanischen Diskurs, der gerne die Religion in den Vordergrund stellt.
Darüber hinaus lassen sich für Karen Körber zwei gegenläufige Tendenzen unter den jungen russischsprachigen Juden ausmachen: zum einen die, das Jüdische als eine von mehreren Identitäten zu sehen, zum anderen aber die Hinwendung zur Orthodoxie. »Von beidem«, sagt Körber, »haben die Gemeinden wenig.«
»Patchwork-Judentum« – für Dmitrij Belkin ist der Begriff positiv besetzt. Der Historiker und Referent beim Ernst Ludwig Ehrlich Studienwerk plädiert für eine Öffnung der Gemeinden auch gegenüber der nichtjüdischen Gesellschaft. Wenig schmeichelhaft fiel Belkins Analyse des aktuellen Zustands in den jüdischen Gemeinden aus, in denen er einen »verlängerten Kalten Krieg« konstatierte. Auch in der Berliner Hauptstadtpresse sei angesichts umstrittener Wahlen in der Berliner Gemeinde schnell von »den Russen« zu lesen gewesen, die sich bekämpften, von »Stalinisten« und »Putinisten«, von »sowjetischen Verhältnissen«.
Humor »Lasst uns diese Narrative aushandeln«, lautet Belkins Aufruf, ein Diskurs müsse gefunden werden, der bis heute nicht existiere. Ein etwas abstrakter Appell – denn wie sollen diese Aushandlungen aussehen? Eine ungewöhnliche Antwort auf diese Frage gab Soziologin Klingenberg: Humor. In ihrer wissenschaftlichen Arbeit beschäftigt sie sich mit der Rolle des Scherzes im Alltag, der ihrer Ansicht nach nicht zuletzt die Funktion hat, Zugehörigkeiten zu verhandeln.
Wie das funktioniert, zeigen die Unterhaltungen junger Menschen, die Klingenberg mitverfolgt, aufgezeichnet und analysiert hat. Da erzählt etwa eine Mutter in geselliger Runde die amüsante Geschichte von ihrer Tochter, die gefragt hatte, ob man ihr »Viertel jüdischen Blutes« sieht, wenn man ihr im Kindergarten Blut abnimmt.
Für Klingenberg mehr als nur eine Anekdote: Auch die Erwachsenen nutzten derartige Erzählungen, um sich ihrer Zugehörigkeit angesichts eines ethnischen Verständnisses des Judentums mit seiner Arithmetik von Hälften und Vierteln in der Sowjetunion, das in der Migration nun infrage gestellt wird, zu vergewissern. Aufgrund unterschiedlicher Identitätsmöglichkeiten sei es unvermeidbar, dass junge Menschen sich nicht für diejenige entscheiden, die die Eltern im Sinn haben.
Dennoch lautete ein Fazit des Abends: Auch in der russischsprachig-jüdischen Gemeinschaft entwickeln sich gerade vielfältige Strukturen – wenn auch nicht immer innerhalb der traditionellen Gemeinden.