Wer sich beim Seminar verspätete, musste nach einem Stuhl suchen. Wo ist hier noch ein freies Plätzchen? Vorne, in der Mitte oder eher hinten? Die akkurat in Reihen aufgestellten Stühle reichten jedenfalls nicht aus. Nachschub aus dem Nachbarraum musste her. Das Thema Flüchtlinge bewegt, bietet Stoff für hitzige Diskussionen, polarisiert. In Deutschland. In Europa. Und in der jüdischen Community?
»Refugees Welcome!? Flüchtlinge und die jüdische Gemeinschaft heute« lautete der Titel der von der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland (ZWST) organisierten Tagung, die am vergangenen Wochenende im Park Plaza Hotel in der Joachimsthaler Straße in Wilmersdorf stattfand, im Herzen des alten West-Berlin.
Das Interesse war groß, das Essen koscher, die Stimmung gut und die Teilnehmer diskussionsfreudig. Welche Positionen sollten Juden in Deutschland gegenüber Geflüchteten einnehmen? Wie kann man sich in der Flüchtlingshilfe engagieren? Droht durch die Zuwanderung vieler muslimischer Menschen aus arabischen Staaten hierzulande eine neue Welle des Antisemitismus? Es waren diese Fragen und noch viele weitere Aspekte mehr, die während der Tagung debattiert wurden.
moralisches Gebot Eine Einführung in das Thema gab Rabbiner Yitshak Ehrenberg beim gemeinsamen Schabbat-Gottesdienst in der dem Hotel direkt gegenüberliegenden Synagoge, als er den Umgang mit der Flüchtlingsfrage in der jüdischen Religionstradition darlegte. Ein guter Startpunkt, lehrt doch schon die Exodusgeschichte in der Tora die Israeliten, Fremde unter ihnen stets gut zu behandeln. Immerhin hatte man in Ägypten ja selbst die Erfahrung des Fremdseins gemacht. Im 5. Buch Mose heißt es kurz und knapp: »Gott liebt den Fremden.« Also eigentlich ein klar verständliches moralisches Gebot, dessen Umsetzung auch und gerade im 21. Jahrhundert brandaktuell ist.
»Flüchtlinge sind momentan das Politikum Nummer eins. Unsere Tagung soll auch zum innerjüdischen Dialog über das Thema beitragen«, sagt Sabine Reisin, Mitarbeiterin der ZWST und Organisatorin der Tagung. Die ZWST veranstaltet seit vier Jahren regelmäßig Seminare zu aktuellen politischen Themen in Berlin. Zielgruppe sind vor allem junge Erwachsene im Alter von 20 bis 30 Jahren. Die Teilnehmer kommen aus allen jüdischen Gemeinden Deutschlands sowie aus Israel.
»Als Juden haben wir eine besondere historische Verpflichtung gegenüber Schutzsuchenden« , erklärt Reisin. »In den 90er-Jahren hat die Zentralwohlfahrtsstelle sogenannten Kontingentflüchtlingen aus der ehemaligen Sowjetunion Unterstützung und Hilfestellung gegeben. Heute bieten wir Informationsstellen und Traumaberatung für Menschen aus Syrien an«. Oft waren die Flüchtlinge zunächst verwundert, wenn sie zur Beratung in die Räumlichkeiten einer jüdischen Gemeinde gehen sollten.
Der Gang zur Asylberatung wird somit für viele gleich zu einer neuen Erfahrung. Denn Tatsache ist: Viele der in Deutschland ankommenden Flüchtlinge stammen aus Ländern des Nahen Ostens. Antisemitismus und Israelfeindschaft sind in den dortigen Gesellschaften weit verbreitet. Staaten wie Syrien und Irak haben Israel bis heute nicht anerkannt und befinden sich mit dem jüdischen Staat faktisch im Kriegszustand.
No-Go-Area Auf diesen Umstand hatte Zentralratspräsident Josef Schuster bereits im Herbst des vergangenen Jahres hingewiesen, auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise. Für seine Anmerkung, dass man möglicherweise Obergrenzen für die Zuwanderung festlegen müsse, hatte er damals viel Kritik von Flüchtlingshilfsorganisationen wie Pro Asyl geerntet. Auf der anderen Seite stimmten ihm viele Mitglieder aus den Gemeinden zu. Sie befürchten eine neue Welle des Antisemitismus in Europa. Andere warnten schon vor No-Go-Areas für Juden, die etwa eine Kippa tragen. Sie sollten sich nicht in bestimmten Vierteln von Großstädten, in denen viele Muslime leben, bewegen.
Tagungsorganisatorin Reisin teilt diese Bedenken. ZWST-Kollegen seien in ihrer Arbeit mit Flüchtlingen immer wieder mit erheblichen Vorbehalten und Ressentiments konfrontiert. »Darum ist es uns sehr wichtig, mit unserer Beratungsarbeit auch einen Sinneswandel als wichtigen Teil in der Integrationsleistung herbeizuführen«, sagt Reisin.
Von durchaus guten Erfahrungen konnte die Organisatorin des Mitzvah Day, Hannah Dannel, berichten. Der jüdische Aktionstag hatte sich im vergangenen Jahr ganz bewusst das Motto »Flüchtlinge« gegeben. Gemeindemitglieder hatten Erstaufnahmeeinrichtungen besucht oder nach einer Checkliste Spenden für Flüchtlinge gesammelt.
Dass den Teilnehmern der Tagung dennoch das Thema Antisemitismus und Israelfeindschaft im Kontext der Flüchtlingsdebatte unter den Nägeln brennt, ist ihnen beim gemeinsamen Mittagessen anzumerken. An den Tischen wurde mitunter recht kontrovers diskutiert. Trotz strahlendem Sonnenschein saßen sie ein ganzes Wochenende in für Beamer-Präsentationen abgedunkelten Seminarräumen.
»In den Medien wird häufig ein negatives Bild von Flüchtlingen vermittelt. Es gibt doch aber auch so viel Positives zu sagen«, erklärt Lev Keyfman seine Teilnahme am ZWST-Seminar. Der 29-Jährige lebt in Frankfurt am Main und ist Lehrer für Mathematik und Physik. An seinem Berufsgymnasium unterrichtet er Flüchtlingskinder in einer von neun Integrationsklassen. »Die Arbeit macht mir Spaß, sie ist aber auch ganz schön anstrengend«, erzählt Keyfman.
Mit der Flüchtlingsthematik beschäftigt er sich seit Spätsommer des vergangenen Jahres, als die Medien voll waren mit Berichten über Tausende von Flüchtlingen, die am Budapester Hauptbahnhof gestrandet waren und, über die Balkanroute kommend, Richtung Westeuropa weiterziehen wollten.
»Ich begegne den Geflüchteten mit viel Empathie. Mit meiner Familie bin ich aus Russland nach Deutschland gekommen und weiß daher, wie es ist, in einem neuen Land fremd zu sein. Es ist wichtig, dass wir die zu uns kommenden Menschen schnell in unsere Gesellschaften integrieren«, erklärt der junge Mann, warum er an dem Angebot in Berlin teilnimmt. Er habe keine Angst vor wachsendem Antisemitismus in Deutschland, sagt Keyfman gelassen: »Auch in meiner Gemeinde spüre ich das nicht. Es ist aber wichtig, dass Europa stärker zusammenarbeitet und Zuwanderung besser organisiert.«
islam Mit der Frage, ob durch die Zuwanderung aus arabischen Staaten ein neues Sicherheitsrisiko für die jüdische Gemeinschaft erwachsen könnte, beschäftigte sich dann auch das Seminar. Referent war der in Berlin lebende Religionswissenschaftler und Nahostexperte Samuel Schidem. Er stammt aus Israel, ist Druse und spricht fließend Arabisch. Nach einem kurzen Überblick über die Spielarten des islamischen Antizionismus und Antisemitismus lautet sein Fazit: »Die Mehrheit der Flüchtlinge aus Syrien und anderen arabischen Staaten ist nicht extremistisch. Sie flieht vor den Islamisten und will hier in Sicherheit leben.«
Der Islam stelle in seiner Gesamtheit keine Gefahr für die jüdische Gemeinschaft dar. Die Religion könne sogar als Brückenbauer für den Dialog dienen. Aber die radikalen Ausformungen des Islam seien eine ernstzunehmende Bedrohung – sowohl für die jüdische Gemeinschaft als auch für die westlichen Gesellschaften allgemein. »Der Westen muss begreifen: Sowohl der sunnitische als auch der schiitische Islamismus ist in seiner jeweiligen Form zutiefst vernichtungsantisemitisch«, mahnt der Experte.
Schwere Kost an einem frühsommerlichen Nachmittag. Am Abend wurde es mit einem Kamingespräch über die Arbeit der Flüchtlingshilfe der ZWST in Berlin relaxter, aber nicht minder spannend. Lev Keyfman ist mit dem Seminar sehr zufrieden. Zur nächsten ZWST-Tagung will er auf jeden Fall wieder nach Berlin kommen.