Diese Karotten vergisst man nicht so schnell. Denn aus ihnen hat Henry Rox erst einen Elefanten geformt und ihn anschließend fotografiert. Das Foto prägt sich ein. Bei einer Suche im Internet nach anthropomorphen Bildern stieß Wolfgang Vollmer auf das Karottenbündel. Und mit diesem Bild fing für den Fotografen ein neuer Lebensabschnitt an, denn der Kölner erwarb es und war so begeistert von dem kleinen Elefanten, dass er mehr über dessen Urheber erfahren wollte. Alles, was er in Erfahrung bringen konnte, war der Name des Fotografen: Henry Rox (1899–1967). Doch dann fand er immer mehr Fotos, die der Künstler gemacht hatte. Da hatte er ihn »richtig gepackt«.
Das liegt nun ein paar Jahre zurück. An diesem regnerischen Herbsttag steht Vollmer in einem kleinen Ausstellungsraum der Galerie Pavlovs Dog in Kreuzberg und stellt das Werk und die Biografie von Rox vor. Dabei spricht er mit so viel Empathie und kann sich immer noch an Erfahrungen bei der Recherche erfreuen, die ihn unter anderem in die Archive von South Hadley, Glasgow, Berlin und Marbach führte.
REVUE Rox’ Fotos, Aufnahmen der Berliner Wohnung, Skulpturen und Porträts hängen für diesen Abend an den Wänden. Zu jedem Objekt kann Vollmer viel erzählen. In einem Buch hat er nun die Bilder zusammengestellt. »Henry Rox’ fotografische Bildwelt ist eine verrückte Revue mit hintergründigem Witz und launigem Charme«, meint der Kölner.
Entstanden ist sie zwischen den 30er- und 50er-Jahren. Einfachste alltägliche Früchte sind so angeordnet, dass eine lebendige Szene entsteht. Beispielsweise, wenn drei Bananen im Chor singen, aus Spargel eine Orgel gebaut wird, an der eine Frühlingszwiebel sitzt und in die Tasten drückt. Oder wenn der Kopf des Geigenvirtuosen eine ganze Birne ist, hingegen das Instrument eine aufgeschnittene.
Die Bilder sind witzig, und um alle Details zu entdecken, muss man genau hinschauen.
Die Bilder sind witzig, und um alle Details zu entdecken, muss man genau hinschauen. »Die Revue spielt mit Verkleiden und Parodieren und lebt von einfachen wie gleichermaßen fantasievollen Arrangements und Inszenierungen, in denen Rox unterschiedliche Rollen mit diversen Früchten und Gemüsen als Hauptdarsteller besetzt«, sagt Vollmer. Er erweckte sie so zum Leben. Nach dem Arrangieren kommt das Foto der jeweiligen Szene – und an manchen dunkleren Stellen der Früchte ahnt man schon deren Vergänglichkeit.
Mit diesen Schwarz-Weiß- und auch Farbfotografien konnte er mehrere Kinder- und Jugendbücher illustrieren. Auch in bekannten Magazinen und Illustrierten wurden die Fotos veröffentlicht, hauptsächlich in Amerika. Für den Musikfilm Strike up the Band (1940) mit Judy Garland und Mickey Rooney konstruierte Rox gar ein animiertes Früchteorchester.
Henry Rox war in der Nachkriegszeit als Dozent für Bildhauerei am Mount Holyoke College in South Hadley tätig – das war Vollmer bekannt, als er sich auf die Suche machte. Er fand Briefe von Rox, bei denen er noch mit Heinrich Rosenberg unterschrieb. Ab diesem Zeitpunkt wurde es für Vollmer leichter, denn nun hatte er den Geburtsnamen.
TAUENTZIEN »Heinrich Rosenberg wurde 1899 als dritter Sohn einer wohlhabenden Kaufmannsfamilie in Berlin geboren, die in der Tauentzienstraße 7a ein Modegeschäft hatte«, berichtet der Fotograf. Heute findet man im Internet noch die Reklamemarken, auf denen die Blusen, Handschuhe und die Taschen abgebildet sind. Nach seinem Abitur an der heutigen Gustav-Langenscheidt-Schule diente Heinrich Rosenberg als Soldat im Ersten Weltkrieg. Anschließend studierte er Bildhauerei und Kunstgeschichte in Berlin. »Er muss in der Kunstszene gut vernetzt gewesen sein und war als Bildhauer und Innenarchitekt erfolgreich.«
Als er als jüdischer Künstler von der »Reichskunstkammer« ausgeschlossen wurde, entschieden sich Heinrich Rosenberg und seine Frau Lotte, eine Journalistin, zur Emigration nach London, wo beide ihre Namen änderten. Rosenbergs Vater war zu diesem Zeitpunkt bereits gestorben. »Er verlor durch die Nazis seine Heimat, seine künstlerische Arbeit, sein Vermögen und viele Verwandte in den Konzentrationslagern«, sagt Vollmer. Für seine Mutter gab es keine Rettung – sie wurde nach Theresienstadt deportiert, sein Bruder nach Auschwitz. Sein anderer Bruder überlebte in der Schweiz. Eine Bombe zerstörte das Haus an der Tauentzienstraße.
Für einen Film mit Judy Garland konstruierte Rox ein animiertes Früchteorchester.
Lotte und Heinrich schafften es schließlich 1938 in die USA nach Massachusetts, wo er als Bildhauer mehr als 25 Jahre in dem College lehrte. Seine ehemaligen Schülerinnen, Kollegen und Verwandten erinnern sich an einen lebendigen, unterhaltsamen und freundlichen Gesprächspartner. »Aber schauen Sie mal, wo er gewohnt hat«, sagt Vollmer und zeigt auf zwei Schwarz-Weiß-Fotos – einmal die Tauentzienstraße, das andere wurde in einer ruhigen Straße in South Hadley aufgenommen. »Das ist in dem Ort die einzige Straße. Ich habe mich gewundert, dass er nach dem lebendigen Berlin so ruhig leben mochte.«
UMZUGSKARTONS Besonders froh und stolz ist Vollmer über einen Umzugskarton, der mit den Werken von und Artikeln über Rox gefüllt war. Er hatte keine Kinder, aber Nichten. Von deren Familie hat der Kölner den Karton erhalten. Darunter ist auch der Zeitungsartikel aus den 30er-Jahren, in dem die Berliner Wohnung samt Atelier gezeigt wird – von dem eine Kopie auch an diesem Abend ausgestellt wird. Die Früchte-Revue habe er aus Spaß entwickelt, vermutet Vollmer. Da sei er von allen Zwängen frei gewesen. »Technisch ist sie perfekt – und genial sowieso.«
Henry Rox ist nie wieder nach Deutschland gereist, obwohl er einmal in der Schweiz seinen Bruder besucht hat. Er sei »ein vergessener Künstler aus der Mitte des 20. Jahrhunderts«, doch Wolfgang Vollmer möchte den vielseitigen Künstler wieder ins Rampenlicht holen. »Es wurde Zeit, dass Henry Rox zurück nach Berlin kommt.«
Wolfgang Vollmer: »Henry Rox Revue«. fotohof edition, Salzburg 2020, 34 S., 29 €