Ein Junge sieht seinen Vater beten. Der trägt die Kippa auf dem Kopf, hat den Tallit über die Schulter gezogen und am Revers etwas umgekrempelt, dass er wie ein breiter Schal die Arme noch frei lässt.
Elijahu Borodin verspürte schon immer Begeisterung, wenn er die Beter in der Synagoge beobachtete. Ihm schien es etwas kompliziert: Warum steht sein Vater ab und zu auf, dreht sich mal nach links, dann nach rechts oder wiegt sich vor und zurück? Manche Gebete murmelt er leise vor sich hin, dann sprechen die Männer wieder alle zusammen wie im Chor. »Das Bild meines betenden Vaters inspirierte mich«, sagt Elijahu Borodin. Ihm sei schon früh klar gewesen, dass er dem Judentum fortan seine Kraft und Leidenschaft widmen würde.
Als Elijahu sieben Jahre alt war, kam seine Familie aus der Ukraine nach Deutschland und zog nach Krefeld. Elijahu lernte Deutsch, machte Abitur. Mit 20 entschied er sich für eine Rabbinatsausbildung in der Yeshiva Gedola von Chabad Lubawitsch in Berlin. Das war vor einem Jahr.
Festung Das Gebäude von Chabad befindet sich in der Münsterschen Straße, in einer ruhigen Seitenstraße in Wilmersdorf. Ein Betonbau, der den Eindruck einer gesicherten Festung macht, die einen Schatz bewacht. Im Innern zeigt sich ein hochmoderner Komplex, ausgestattet mit der neuesten Technik. Direkt neben der ausladenden Eingangshalle befindet sich eine große Synagoge. Bärtige Männer mit Tallit und Kippa gehen ein und aus.
Elijahu wirkt ein wenig zurückhaltend und schüchtern. Seine Kippa trägt er wie versteckt unter seiner Baskenmütze. »Ich will mit meiner Kleidung niemanden provozieren«, sagt er. Rabbiner zu werden, ist für ihn eine Leidenschaft. Er möchte »eine Gemeinde finden, die Hilfe benötigt. Rabbiner haben eine Verantwortung und müssen sich immer wieder selbst prüfen.« Elijahu möchte das Judentum in Deutschland voranbringen. Er wünscht sich das Land als einen judenfreundlicheren Staat: »Ich habe einen Supermarkt gesehen, der eine koschere Abteilung führt. So etwas gibt es in Amerika und England schon lange. Ich habe das Gefühl, dass das Judentum in Deutschland wieder stärker wird.«
Familie Natalia Verzhbovska ist 44 Jahre alt, wuchs in Kiew auf und lebt seit vier Jahren in Deutschland. Sie studiert am liberalen Abraham Geiger Kolleg, während ihr Mann als Rabbiner in Russland arbeitet. Ihr Sohn studiert in Kiew. Den Kontakt zu ihrer Familie hält sie im Moment zweimal täglich via Skype.
Natalia Verzhbovska ist in ihrem ersten Beruf Pianistin. Sie studierte am Konservatorium in Kiew und arbeitete 15 Jahre lang an verschiedenen Theatern in St. Petersburg, Kiew und Moskau. Erst mit 40 Jahren entschied sie sich, nach Deutschland zu gehen, um eine Rabbinatsausbildung zu machen. Dies ist für Frauen in Europa bislang nur in London und am liberalen Abraham Geiger Kolleg in Berlin möglich.
Das liegt nur knapp zwei Kilometer vom Chabad-Zentrum in der Nähe des Kurfüstendamms. Im dritten Stock treten die Studenten zunächst in einen büroähnliche Empfangsbereich. Natalia Verzhbovska macht einen burschikosen Eindruck. Die Wahl zwischen Amerika, England und Deutschland fiel ihr nicht schwer: »Durch unsere Geschichte sind unsere beiden Länder miteinander verbunden. In der Ukraine werden die Deutschen nicht als Feinde gesehen.«
Perspektive Natalia ist seit zwei Jahren am Geiger-Kolleg, 2013 beendet sie ihr Studium. Sie hat bereits einige Praktika in verschiedenen Gemeinden absolviert. Das letzte Jahr der Ausbildung wird sie in Israel verbringen. Es wird nicht leicht werden für sie. »Für Frauen gibt es weniger Chancen und weniger Perspektiven in Deutschland und Europa. Viele Gemeinden haben noch sehr traditionelle Vorstellungen von einem Rabbiner. Sie erwarten einen Mann mit Bart und Hut. Für uns ist es schwieriger, einen Weg zum Verständnis zu finden.«
Ihren weiteren Berufswunsch hat sie bereits klar definiert: »Wenn es geht, möchte ich in Deutschland bleiben und den russischsprachigen Juden in ihrer Gemeinde helfen.« Elijahus zweite Leidenschaft sind Zahlen. Er studiert nebenbei auch noch Mathematik an der Humboldt-Universität. »Meiner Meinung nach hilft einem das Studium der Mathematik ebenso wie das Studium der Tora, die Welt besser zu verstehen.« Er könne sich, sagt er, genauso gut eine Karriere im Finanzwesen vorstellen.
Drei Tage Mathematik, vier Tage jüdische Lehren. Von morgens um 6.30 Uhr bis spätabends. Das ist Elijahus Weg, Wissenschaft und Religion zu verbinden. Dazwischen findet er auch mal Zeit, eine Runde Billard mit seinen Freunden und Studienkollegen zu spielen. »Die jüdische Mystik sagt uns, dass gleichgültig wo man ist, es einen Sinn hat, dort zu sein. Man muss nur nach diesem Sinn suchen und ihn erfüllen«, philosophiert Elijahu und klingt bereits wie der berühmte Kabbalist Baruch de Spinoza.
Ausbildung Seit 14 Jahren gibt es wieder Rabbinatsausbildungen in Deutschland. 1998 veranstaltete Chabad Lubawitsch in Berlin ein erstes einjähriges Jeschiwa-Programm. Gegründet von Rabbiner Yehuda Teichtal, sei es die erste Rabbinerausbildungsstätte in Deutschland seit der Schoa. Dank Einrichtungen wie Chabad und Abraham Geiger Kolleg haben Juden in Deutschland wieder die Möglichkeit, ein Studium zum Rabbiner zu absolvieren. Auch wenn beide Einrichtungen unterschiedliche Ansichten zu Tradition und Liberalismus haben, verfolgen sie gemeinsame Ziele: ambitionierte Studenten zu traditionsverbundenen und weltoffenen Rabbinern auszubilden.
Denn sie werden gebraucht: Nur etwa ein Drittel der rund 108 Gemeinden in Deutschland haben einen eigenen Rabbiner. Elijahu steht am Anfang seiner Ausbildung, er hat noch Träume. Er wird sich entscheiden müssen, zwischen »der Religion in Israel« oder einer »westlichen Finanzkarriere«. Er weiß: »Beides ist nicht miteinander vereinbar.«
Natalia hat bereits ihren Weg gefunden, sie will auf jeden Fall Rabbinerin einer Gemeinde werden. Sie ist sich der Schwierigkeiten durchaus bewusst. »Ich bin die Minorität«, sagt sie stolz und kämpft für ihren Glauben.