Irgendwann reichten die Stühle im Festsaal der Augsburger Synagoge nicht mehr aus. Für etwa 120 Menschen war bestuhlt worden. Die Ankündigung »Rabbiner Brandt im Gespräch mit Charlotte Knobloch« hatte mehr angelockt. Zwei große Namen der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland machten neugierig: Charlotte Knobloch, bis 2010 Präsidentin des Zentralrats der Juden in Deutschland, seit 1985 Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern, Henry G. Brandt, bis 2006 Gründungsvorsitzender der Deutschen Rabbinerkonferenz, seit 2004 Gemeinderabbiner der IKG Schwaben-Augsburg.
Man stellte also kurzerhand noch ein paar Bierbänke auf. Wer dort keinen Platz mehr fand, lehnte bequem an den Wänden ringsum. Das große Interesse konnte Benigna Schönhagen, Leiterin des Jüdischen Kulturmuseums Augsburg-Schwaben, natürlich nur freuen und zuversichtlich stimmen.
Charlotte Knobloch und Henry Brandt eröffneten nämlich die Veranstaltungsreihe »Im Gespräch«, die – in »Kooperation mit dem Evangelischen Forum Annahof« – in loser Folge zwei Menschen aufs Podium bringt. Für den erkrankten Vorstand der Israelitischen Kultusgemeinde Schwaben Augsburg, Alexander Mazo, ließ man Grußworte verlesen. Er danke, hieß es da, Charlotte Knobloch ausdrücklich für ihre »aufklärende« Autobiografie.
Die Autobiografie In Deutschland angekommen, die Charlotte Knobloch vor zwei Jahren zusammen mit Rafael Seligmann verfasst hat, bildete den Hintergrund des Gesprächs. Rabbiner Brandt, der wie Charlotte Knobloch »ein Münchner Kindl« ist, aus einer assimilierten Familie stammt, und sich »trotz allem, was wir erleben mussten« für ein Leben in Deutschland entschieden hat, übernahm die Rolle des Gastgebers.
Heirat Er moderierte charmant, witzig, gewieft, ganz wie man das von ihm erwarten konnte. Er wolle dem Publikum »hinter allen Ämtern und Auszeichnungen« Charlotte Knoblochs »den Mensch, der hier sitzt« näher bringen. Mit Augsburg verbinde sein Gast ja auch etwas wirklich Schönes, deutete er geheimnisvoll an. Hier war es nämlich, allerdings in einem Augsburger Krankenhaus mit dickem Verband um den Kopf, dass ihr ihr Mann, Samuel Knobloch, einen Heiratsantrag gemacht hat (der Leser ihrer Autobiografie weiß das längst).
Doch Brandt lässt sie berichten, zunächst über ihre Kindheit, die ihr die Nazis und alle, die dazu gehörten, zerstört haben, einzelne Erinnerungen, die sich nachlesen lassen und doch nicht. Denn, wenn Charlotte Knobloch aus dieser Zeit erzählt, wird sie mit Stimme und Ausdruck Teil ihrer Geschichte. Bilder gehen spürbar an ihr vorüber und das bannt das Publikum. Immer wieder seien da »Herren« durch die Wohnung in München gegangen und hätten dies und das mitgenommen, auch mal ein »silbernes Kännchen«, was die Großmutter dann auch noch säuberlich quittieren musste. Und natürlich fragt man sich da ganz aktuell, in welchem Keller, in welcher Vitrine »dies und das« heute seinen Platz gefunden hat. Ihr Vater und sie überlebten. Sie haben also »Glück gehabt«. Die geliebte Großmutter nicht.
»Woher kam der Wille, trotz dieser Erfahrung, sich für die jüdischen Gemeinden in Deutschland einzusetzen?«, fragt Henry Brandt. Er wuchs, kam nicht von heute auf morgen, brauchte eher Jahrzehnte, erklärt Charlotte Knobloch. Mit dem »roten Teppich«, den die Menschen, die sie nur ein paar Jahre zuvor angespuckt hatten, vor ihr ausrollten, konnte sie nichts anfangen. »Ich wollte weg.« Aber das Leben spielte anders. Sie heiratete, bekam Kinder und hatte es schwer, »Glaubensgenossen außerhalb Deutschlands« zu erklären, was sie im Land der Täter noch verloren hatte.
Kontakt zur nichtjüdischen Mehrheitsgesellschaft mied man bis Ende der 70er Jahre, »wir haben unter uns gelebt«, bis der Film ›Holocaust‹ kam. »Danach war das Eis gebrochen.« Man begann miteinander zu reden. Es rührte sich etwas und übrigens »haben alle Überlebenden, die in Deutschland geblieben sind, einen Beitrag dazu geleistet, dass das Land dort steht, wo es heute steht«.
Kraft Charlotte Knobloch spürte plötzlich bei den Menschen drum herum Interesse an den Juden, sie spürte das Verlangen, Kontakt aufzunehmen. »Das gab mir Kraft, das motivierte mich.« Wie es weiterging ist bekannt. Zuerst ließ sie sich in den Vorstand der Münchner Gemeinde wählen, dann übernahm sie deren Vorsitz. »Nimmst du an?«, hat man sie gefragt und sie ist aus allen Wolken gefallen. »Was sagen die Rabbiner dazu?«, sei ihre spontane Gegenfrage gewesen, eine Frage, die Rabbiner Brandt gefällt, auch dass die Rabbiner von damals alle damit einverstanden waren, dass ein Frau das Ruder übernahm.
»Überhaupt«, findet er, »wieso läuft es in den Gemeinden, die von Frauen in den Vorständen geführt werden, irgendwie besser, friedlicher...?«, fragt er und blickt Richtung Berlin. Frauen seien eben einfühlsamer, hätten kein so großes Verlangen, im Vordergrund zu stehen, meint Charlotte Knobloch. Das Gespräch ist in der Gegenwart angekommen. Wie nebenbei fragt Henry Brandt mal nach, was die Präsidentin denn so von den Stolpersteinen halte.
Nichts, sagt sie. Nein, sie sagt das viel eindrücklicher, will nicht, dass auf Namen von Naziopfern »herumgetrampelt« werde, will nicht, dass sie noch einmal »beschmutzt« werden und verlangt nach einer anderen Erinnerungskultur. Henry Brandt versucht nicht zufrieden zu nicken. Er tut das mehr innerlich. Auch in Augsburg gibt es nämlich eine Stolpersteindiskussion mit einigen Befürwortern... Anderes Thema: Patriotismus.
Heimatgefühl Einen »aufgeklärten Patriotimus«, wünsche sie sich durchaus, sagt Charlotte Knobloch. »Der junge Mensch braucht eine Richtung, sonst weiß er nicht, wohin die Reise geht...«, und das sei gefährlich. Die jungen Menschen sollten sich für ihr Land einsetzen, für die Demokratie in ihrem Land engagieren, sollten ein »Heimatgefühl« entwickeln. Charlotte Knobloch ist »in Deutschland angekommen«.
Sie sieht nach vorne, weil alles, was erreicht ist, einen Haken bekommt und zum Nächsten auffordert. Wie es weiter geht mit den jüdischen Gemeinden, will Rabbiner Brandt noch wissen. »Was ist das Gebot der Stunde?« Charlotte Knobloch setzt auf Konzentration, setzt auf den Blick aufs Wesentliche. »Die jüdische Gemeinden sind jüdische Religionsgemeinschaften, nicht mehr und nicht weniger.« Deshalb müsse man darauf achten, dass die Menschen bei ihrer Religion bleiben. Dass die Kinder bei ihrer Religion bleiben. »Das ist die wichtigste Aufgabe unserer Gemeinden. Für das Fortleben der Religion in unserer Gemeinschaft brauchen wir hervorragende Menschen, Menschen wie Rabbiner Brandt.«
Es ist spät geworden. Charlotte Knobloch muss heute noch nach München zurück. Und dann ist doch noch schnell aber deutlich ein Haken zu verbuchen, »die Zuwanderung der Menschen aus den ehemaligen Sowjetstaaten war unser großes Glück. Ihre Integration haben die Gemeinden so gut wie geschafft«, dann noch ein Wunsch, »dass aus dem Miteinander Normalität wird.«