In diesem von Corona geprägten Jahr 2020 kann die Israelitische Kultusgemeinde Würzburg und Unterfranken gleich zweimal feiern: Am 24. März 1970, vor 50 Jahren, wurde die neue Synagoge eröffnet, und am 10. Juli 1945, vor 75 Jahren, kamen 21 Überlebende des Konzentrationslagers Theresienstadt nach Würzburg, was den Neubeginn jüdischen Lebens nach der Schoa markierte. Und die Perspektiven für die Weiterentwicklung der Jüdischen Gemeinde in Würzburg sehe er absolut positiv, sagt Zentralratspräsident Josef Schuster.
Zeitzeugen für die Anfänge im durch einen britischen Bombenangriff am 16. März 1945 zum großen Teil zerstörten Würzburg sind rar. Rotraud Ries, die Leiterin des Johanna-Stahl-Zentrums für jüdische Geschichte und Kultur in Unterfranken, weist darauf hin, dass es keine formale Neugründung der jüdischen Gemeinde gab.
Restituierung Als es um die Restituierung ihres Vorkriegsbesitzes ging, machte die Würzburger Gemeinde bittere Erfahrungen mit der »Jewish Restitution Successor Organization« (JRSO). »Die internationale jüdische Gemeinde wollte nicht, dass es jüdisches Leben in Deutschland nach dem Holocaust gibt«, sagt die Historikerin.
Für den Bau der Synagoge hat die Gemeinde kein Geld vom Zentralrat erhalten.
Josef Schuster erinnert sich an die Schwierigkeiten, mit denen sein Vater David Schuster – von 1958 bis 1996 Vorsitzender der Würzburger Gemeinde – zu kämpfen hatte. »Nach dem Zweiten Weltkrieg hat mein Vater mit Mühe und Not das Nutzungsrecht für das jüdische Altersheim erreicht. Das Verhältnis zur JRSO war sehr schwierig. Deren Ziel war die Auswanderung der Juden nach Israel oder in die USA.«
Unterstützung Widerstand gab es auch gegen den von David Schuster durchgesetzten Bau der Synagoge. »Mein Vater hat die Synagoge trotz fehlender Unterstützung durch den Zentralrat gebaut«, erzählt der Zentralratspräsident. Den Löwenanteil der Finanzierung habe die Stadt Würzburg übernommen.
Der Dresdner Historiker Steffen Heidrich, der an einer Dissertation über die Jüdischen Gemeinden in Dresden und Würzburg von 1945 bis 2010 arbeitet, charakterisiert Schuster senior so: »David Schuster spielte eine ganz entscheidende Rolle bei der Entwicklung des jüdischen Lebens in Würzburg und Unterfranken.« Er habe maßgeblich zur Verankerung der Gemeinde in der Würzburger Stadtgesellschaft, der Entwicklung einer Erinnerungslandschaft für die jüdischen Gemeinschaften in Unterfranken und zum interreligiösen Dialog in der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit beigetragen. Besonders hebt der Historiker Schusters »Kommunikationstalent« hervor.
Zuwanderung Wohl die wichtigste Zäsur in der Gemeindegeschichte bildet die Ankunft der jüdischen »Kontingentflüchtlinge« aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion. »Nach dem Fall der Mauer ist unsere Gemeinde, die nach der Schoa einen Höchststand von 250 Mitgliedern und 1990 200 Mitglieder hatte, deutlich gewachsen. Heute haben wir 900 Mitglieder«, berichtet der Zentralratspräsident, seit 1998 Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde.
»Wir haben David Schuster sehr verehrt.«
Claudia Kupermann kam aus der Ukraine nach Deutschland.
Zu den »Kontingentflüchtlingen« gehört auch die aus der Ukraine stammende Claudia Kupermann. Sie erinnert sich gut an Schuster senior: »Wir haben David Schuster sehr verehrt«, sagt sie. »Er war sehr väterlich und hat uns von Anfang an in sein Herz geschlossen.«
Shalom EUROPA Mit der Gemeinde wuchs auch der Platzbedarf: Das 2006 eröffnete Gemeinde- und Kulturzentrum »Shalom Europa«, das sich an die Synagoge »anlehnt«, ist sichtbarer Ausdruck des Aufschwungs, den die Würzburger Gemeinde in den vergangenen 30 Jahren genommen hat.
»Die Einweihung war mit drei Stunden sehr lang«, erinnert sich Josef Schuster an den 23. Oktober 2006. Besonders beeindruckt hat den Zentralratspräsidenten die Ansprache des 2010 verstorbenen Journalisten und »Welt am Sonntag«-Herausgebers Ernst Cramer. »Er ist nach dem Zweiten Weltkrieg als amerikanischer Offizier nach Würzburg gekommen und hat die Anfänge der jüdischen Gemeinde miterlebt.«
Bis es zum Shutdown aufgrund der Corona-Krise kam, fand im »Shalom Europa« ein reges Gemeindeleben statt. Jetzt nimmt es langsam wieder Fahrt auf. »Mit unserer Frauengruppe sind wir öfters in andere Gemeinden gefahren, zum Beispiel nach München und Aschaffenburg«, berichtet Kupermann, die mit ihrer Gruppe »Menora« auch bei der Eröffnung des Gemeindezentrums mitgewirkt hatte. »In unserer Malgruppe haben manche ihr Talent entdeckt, die zuvor nie gemalt haben und nur aus Neugier in die Gruppe gekommen sind.«
Für die Jugend- und Familienarbeit in der Gemeinde ist Alexander Shif verantwortlich. Er betont die Kontinuität der Würzburger Gemeinde über alle Brüche hinweg. »Wir bewahren die Tradition der fränkischen Gemeinden im Sinne der Orthodoxie und sind offen für alle möglichen Richtungen. Jeder hat seinen Platz in der Gemeinde.«
JÜKA Shifs Angebote sollen den Kindern und Jugendlichen das Schließen »richtiger Freundschaften« ermöglichen. Großes Potenzial sieht der Jugendleiter in der Projektarbeit – beispielsweise im Kunstprojekt JÜKA, der »Jüdischen Kunstakademie«, und in der Teilnahme an der Jewrovision.
Bei der Jewrovision 2019 belegten die Würzburger Kids Platz 3.
Der größte Musik- und Tanzwettbewerb jüdischer Jugendzentren in Deutschland findet seit 2002 jährlich statt – 2020 wurde er wegen Corona abgesagt. Sehr zum Bedauern von Alexander Shif, der für den Auftritt der Würzburger Jugendlichen mit anderen Gemeinden kooperiert. »2019 haben wir den 3. Platz in Deutschland belegt. Das war ein großer Erfolg für den Bayerischen Landesverband.«
Wichtig sind für ihn auch die seit 2019 stattfindenden regelmäßigen Treffen mit anderen kleinen jüdischen Gemeinden – initiiert hat die Begegnungen die Würzburger Gemeinde.
Erinnerungskultur Das Verhältnis seiner Gemeinde zur Stadt Würzburg beurteilt Gemeindepräsident Schuster positiv: »Dank der Unterstützung durch die Stadtspitze und bürgerschaftliche Initiativen hat sich die Erinnerungskultur in der Stadt Würzburg in den letzten 15 Jahren positiv entwickelt«, freut sich der Zentralratspräsident. Am 17. Juni wurde auf dem Würzburger Bahnhofsvorplatz der »DenkOrt Deportationen 1941–1944« eröffnet – er erinnert an die Deportation von 2000 unterfränkischen Jüdinnen und Juden.
Auch wenn Würzburg nicht die Insel der Seligen sei und auf Bundesebene judenfeindliche und antisemitische Tendenzen festzustellen seien, fällt Schusters Zukunftsprognose für »seine« Gemeinde optimistisch aus. »Ich bin nicht besorgt um das jüdische Leben in Würzburg«, sagt der 66-Jährige.