Manche Jahrestage bringen schmerzhafte Erinnerungen zurück. Der vom 9. Oktober ist so einer, weil vor genau zwei Jahren ein Rechtsextremer versucht hatte, sich mit Schusswaffen Zugang zu der Synagoge in Halle zu verschaffen. Für Jüdinnen und Juden hierzulande bedeutete dieser Anschlag eine Zäsur, wie in der Einladung zu einer Podiumsdiskussion mit dem Titel »Zwei Jahre nach Halle: Wie bekämpfen Deutschland und die EU Antisemitismus?« zu lesen ist.
Die Europäische Kommission in Deutschland richtete die Veranstaltung gemeinsam mit dem Ernst Ludwig Ehrlich Studienwerk (ELES) im Rahmen seines Programms »Nie wieder!? Gemeinsam gegen Antisemitismus & für eine plurale Gesellschaft« aus.
TACHELES Jörg Wojahn redete in seinem Grußwort Tacheles: »Jüdinnen und Juden sind in Deutschland nicht mehr sicher«, so der Vertreter der EU-Kommission in Berlin. »Sie werden angefeindet, und zwar täglich.« Zugleich verwies er auf die Covid-Pandemie als Katalysator einer ohnehin bedrohlichen Entwicklung. »Die antisemitische Hetze im Netz hat sich seit ihrem Ausbruch im Netz verdreizehnfacht. Neun von zehn Jüdinnen und Juden in der EU erklären, dass der Antisemitismus in ihrem Land zugenommen habe.«
Vor dem Hintergrund der Erfahrungen, die dieser Tage der Sänger Gil Ofarim nach eigenen Angaben in Leipzig machen musste, benannte Katharina von Schnurbein den Alltagsantisemitismus als eine der Ausdrucksformen des Judenhasses, die von Betroffenen besonders schwer zu verarbeiten sei, weil sich dieser oftmals in den Grauzonen dessen manifestiere, was strafbar ist und was nicht.
Benjamin Fischer wollte das Thema aus möglichst vielen Perspektiven beleuchtet wissen.
Dennoch sah die Antisemitismusbeauftragte der EU Fortschritte. »Wenn 27 EU-Länder gemeinsam Druck auf Internetplattformen ausüben, damit sie Hassreden unterbinden, dann hat das einen Mehrwert.« Auch das Zusammenspiel zwischen EU und den einzelnen Mitgliedsstaaten habe dazu geführt, dass Kapazitäten bei den Strafverfolgungsbehörden aufgestockt wurden.
PERSPEKTIVEN Benjamin Fischer, Moderator der Podiumsdiskussion sowie Programmmanager bei der Alfred Landecker Foundation, wollte das Thema aus möglichst vielen Perspektiven beleuchtet wissen. »Bei der ersten Veranstaltung, die ich 2015 in Brüssel besuchen durfte, wurde die Stelle Frau von Schnurbeins öffentlich bekannt gegeben. Nun sitzen wir sechs Jahre später in dieser Runde und stellen uns die Frage, was Deutschland und die EU im Kampf gegen Antisemitismus unternehmen.«
Er sei etwas rat- und sprachlos, lautete darauf die Antwort von Michael Roth, Staatsminister im Auswärtigen Amt (SPD). Und er fügte an: »Weil wir natürlich nicht genug tun im Kampf gegen Antisemitismus.« Nicht nur die Ereignisse in Halle von vor zwei Jahren hätten das gezeigt, sondern ebenfalls die Krawalle im Mai, als radikale Linke vereint mit Islamisten in Berlin und anderswo auf die Straße gingen und antisemitische Parolen skandierten.
WARNUNG Über die Umsetzung von konkreten Strategien wusste Samuel Salzborn, Antisemitismusbeauftragter des Landes Berlin, einiges zu berichten. So seien in der Bundeshauptstadt Generalstaatsanwaltschaft, Polizei und Monitoring-NGOs wie RIAS sowie die jüdische Gemeinde mittlerweile in vielerlei Hinsicht verzahnt, was sich bereits positiv auswirken würde. Darüber hinaus warnte er angesichts der aktuellen Konjunktur von Verschwörungserzählungen explizit vor einer Fehleinschätzung ihrer Anhänger.
Immer noch bestehende Defizite im Umgang mit den Betroffenen konstatierte Anastassia Pletoukhina.
»Sie nehmen bestimmte Ereignisse nur als Vorwand, um zu agieren.« Abstrakte Phänomene wie eine Pandemie würden von ihnen nicht wirklich verstanden. Dafür projizierten sie diese auf Personen, die man dann zu den Urhebern erkläre. »Verschwörungserzählungen sind per se antisemitisch.« Eine Radikalisierung bis hin zur Bereitschaft, Morde zu begehen, könne die Folge sein.
Immer noch bestehende Defizite im Umgang mit den Betroffenen konstatierte Anastassia Pletoukhina, Direktorin des Nevatim-Programms der Jewish Agency und Überlebende des Anschlags von Halle. Zum einen hat sie die mangelnde Sensibilität der Sicherheitsbehörden im Umgang mit allen, die sich damals in der Synagoge befanden, noch allzu gut in Erinnerung. Zum anderen stießen ihr die vielerorts zu hörenden Phrasen von Politikern unmittelbar nach der Tat unangenehm auf. Ihr Fazit: »Es gibt einerseits die Gesetzeslage, und dann ist da noch die Realität.«