In großen weißen Lettern prangt der Schriftzug »Kassel 1100. 913–2013« vor der dunklen Sandsteinfassade des Rathauses. Die Stadt feiert ihre Geschichte. Dass auch noch das 60-jährige Bestehen der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit in dieses ohnehin geschichtsträchtige Jahr 2013 fällt, mag den Ausschlag dafür gegeben haben, dass die Heimatstadt Franz Rosenzweigs den Zuschlag für die Ausrichtung der offiziellen Eröffnung zur Woche der Brüderlichkeit erhalten hat. Dies mutmaßt zumindest ihr Oberbürgermeister Bertram Hilgen beim Festakt zur Verleihung der Buber-Rosenzweig-Medaille am Sonntag.
Der hessische Ministerpräsident Volker Bouffier (CDU) bezeichnete es als außergewöhnlich, dass schon 1948 im »Land der Täter« die erste christlich-jüdische Gesellschaft gegründet wurde. Ziel müsse sein, dass alle Menschen in Frieden, Freiheit und ohne Angst leben könnten, betonte der hessische Ministerpräsident.
Motto »Sachor (Gedenke): Der Zukunft ein Gedächtnis«, dieses Jahresmotto des Koordinierungsrates der Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit hinterfragte seine katholische Präsidentin Eva Schulz-Jander. 169-mal werde der Imperativ in der Bibel wiederholt, als Existenzsicherung oder Zukunft durch Erinnern. Wissenschaft und Literatur bildeten Medien des Gedächtnisses, vertreten seien sie durch die Preisträger, den Historiker Raphael Gross, stellvertretend für das Fritz Bauer Institut, und die Schriftstellerin Mirjam Pressler.
»Fritz Bauer wusste«, sagte Laudatorin Charlotte Knobloch im sehr gut besetzten Kasseler Staatstheater, »dass Verantwortung nicht verjährt.« In diesem Sinne erforscht und dokumentiert das nach dem Frankfurter Richter und Staatsanwalt benannte Institut »die nationalsozialistischen Massenverbrechen«. Die Buber-Rosenzweig-Medaille würdige die immer neuen, interdisziplinären Impulse des Instituts.
Mirjam Pressler nähere sich von der empathischen Seite diesem Thema. »Seit mehr als 30 Jahren thematisiert sie die Verarbeitung individueller Vergangenheit. Trotz – oder gerade wegen – ihrer schadhaften, ganz und gar zertrümmerten Kindheit gelingt es ihren jungen Protagonisten, zu starken Persönlichkeiten heranzureifen«, betont die ehemalige Zentralratspräsidentin die Wirkung, die von Presslers Büchern ausgeht.
Beide wollen sie die Jugend erreichen, betonen Pressler und Gross im Gespräch mit dem Moderator Meinhard Schmidt-Degenhard vom Hessischen Rundfunk, bei der Preisverleihung; das Fritz Bauer Institut indem es versucht, mit seinem pädagogischen Ansatz, jüdische Geschichte in Deutschland nicht nur als Opfergeschichte, sondern als Beitrag zur Kulturgeschichte zu vermitteln. Mirjam Pressler weiß, dass Kinder für die in ihren Büchern individualisierten Schicksalen sehr wohl empfänglich sind.
Normalität Solange Polizeiwagen ständig die Synagoge bewachen müssten, »sind wir noch längst nicht in einem normalen Zustand«, betonte OB Hilgen unter spontanem Applaus. Dabei hätten Stadt und Universität von Kassel sich schon sehr früh der nationalsozialistischen Vergangenheit gestellt und sie erforscht. Die Universität richtete bereits 1987 die Franz-Rosenzweig-Gastprofessur ein. Verschiedene Mahnmale im Innenstadtgebiet zeugen vom Grad der Forschung und Aufarbeitung.
Einen kleinen Eindruck erhielten die rund 30 Interessierten, die sich am Samstagmittag am Aschrott-Brunnen vor dem Kasseler Rathaus eingefunden hatten. Mit dem Leiter der Gedenkstätte Breitenau, Gunnar Richter, begaben sie sich auf die »Spuren der Verfolgung der Juden in Kassel«. Diese sind weitestgehend verwischt.
Der Aschrott-Brunnen selbst ist heute nur noch als Negativform ein Mahnmal des Kasseler Documenta-Künstlers Horst Hoheisel. Das ursprünglich vom Industriellen Sigmund Aschrott seiner Stadt gestiftete Bauwerk war als »Judenbrunnen« von den Nationalsozialisten mutwillig beschädigt und schließlich abgerissen worden.
Bürgersäle Auf dem Karlsplatz befindet sich eine Bronzetafel, die auf die Gaststätte »Bürgersäle« verweist, den Versammlungsort der NSDAP und SA in Kassel. Im Kellergewölbe wurden Juden und politisch Missliebige gequält und gefoltert. Auf dem Opernplatz hatten Nazis bereits im März weit vor dem Aufruf zu den Boykotten jüdischer Geschäfte am 1. April 1933 dazu aufgerufen, »nicht mehr bei Juden zu kaufen«.
Das Gleis 13 am ehemaligen Hauptbahnhof versinnbildlicht das dunkelste Kapitel Kassels. Rund 1000 Juden aus der Stadt sowie weitere 2000 aus der Umgebung wurden von hier aus im Dezember 1941 nach Riga und 1942 in die Konzentrationslager Majdanek, Sobibor und Theresienstadt deportiert.
Eine kleine, aber feine Ausstellung in der Schaustelle des Stadtmuseums war dem großen Sohn der Stadt, Franz Rosenzweig, gewidmet. Miniaturen jüdischer Honoratioren, persönliche Erinnerungen, zeugen von der assimlierten jüdischen Stadtgesellschaft im 19. Jahrhundert.
Ehre Die Stadt freue sich über die Ehre, dass sie die zentrale Eröffnung ausrichten dürfe, hatte Oberbürgermeister Bertram Hilgen zu Beginn der Eingangsveranstaltungen gesagt. Dabei hat Kassel viel zu bieten und beschränkt seine Vorträge, Rundgänge und Ausstellungen keinesfalls auf das erste Märzwochenende. Doch Werbung machte die Stadt dafür nicht. Außer einem kurzen Artikel in der Tagespresse konnten spontan Interessierte nirgendwo Material über die Veranstaltungen erhalten, noch nicht einmal in den Touristikbüros.
Lag es daran, dass die Ausstellung, die Führungen und Vorträge sowie eine Lesung nur nach Voranmeldung besucht werden konnten, dass vor allem die Zuhörer jenseits der Pensionsgrenze überwogen? Junge Menschen fanden sich – zumindest in Kassel – nur sehr wenige ein.