Die Äpfel an den drei Bäumen sind noch nicht ganz reif. »Leider«, sagt Dan Blinstein aus Berlin. Deshalb bleibt ihm und seiner Frau Katharina nichts anderes übrig, als einige einzukaufen, denn Äpfel und Honig gehören zu Rosch Haschana auf den Tisch.
An diesem Vormittag, ein paar Tage vor dem Neujahrsfest, sitzt das Paar ganz entspannt am Küchentisch. »Wir sind ganz pragmatisch und kochen erst kurz vorher«, sagt Katharina Blinstein. Oft gehen sie vorher zusammen einkaufen, oder »wer Zeit hat«. Auf jeden Fall muss alles »in den Alltag passen«, so die 45-jährige Ärztin. Einiges werden sie auch bestellen wie beispielsweise Gefilte Fisch. Vorher wird noch besprochen, wer das Dessert, die Suppe und das Hauptgericht übernimmt.
Bei Familie Blinstein werden in diesem Jahr auch die Großeltern den Gottesdienst besuchen.
Die Synagogenplätze in der Gemeinde Sukkat Schalom sind bereits reserviert. In dieser Beterschaft ist Katharina groß geworden, nachdem sie als Grundschülerin mit ihren Eltern von Hamburg nach Berlin gezogen war. Und neben der fünfköpfigen Familie – das Paar hat drei Töchter zwischen neun und 18 Jahren – werden auch ihre Eltern den Gottesdienst besuchen. Anschließend wird zusammen gegessen. »Wir sind dann fast immer vollzählig«, so Katharina Blinstein. Sie müssen nicht weit gehen, denn alle leben in getrennten Wohnungen in einem Haus.
HOFFNUNG In den vergangenen, von der Pandemie geprägten zwölf Monaten ist zumindest ein Wunsch in Erfüllung gegangen: Sie konnten in den Urlaub fahren. »Nun hoffen wir, dass unsere Kinder weiter in die Schule gehen, Sport treiben können und dass es keinen Lockdown geben wird«, sagt der 47-jährige Manager einer Potsdamer Kommunikationsagentur.
»Vielleicht wird es trotz Corona zumindest ähnlich, wie es vorher mal war«, hofft er, der ebenfalls schon mehrere Jahrzehnte der Berliner Synagogengemeinde Sukkat Schalom angehört. Als drei Monate altes Baby kam er mit seinen Eltern aus Israel nach Deutschland – die Familie blieb schließlich in Berlin.
INITIATIVE Der Sonntagmittag gehörte für etliche Mitglieder des »Mitzwa Express« der Synagoge Pestalozzistraße dem Packen. Im Kidduschraum wurden die Materialien auf den Tischen gestapelt und schließlich eingepackt. Wein, Challa, Honig, Äpfel, Honigkuchen und Wein wanderten in die Tüten, auf denen eine Druckerei den Absender »Mitzwa Express der Synagoge Pestalozzistraße« aufgedruckt hat. Verteilt werden sie nach dem Rosch-Haschana-Gottesdienst in der Synagoge, so Naomi Birnbach, eine der Hauptinitiatorinnen.
Aber das ist noch nicht alles: Für mehr als 100 Senioren und Bedürftige werden die ehrenamtlichen Mitarbeiter des Mitzwa Express in Berlin kochen und die Speisen ausliefern. Mehrere Familienmitglieder von Rachel-Shadeé Deichmann, die sich ebenfalls beim Mitzwa Express engagiert, übernehmen einige Fahrten. »Sie berichten immer, wie sehr sich die Leute freuen und dass sie sich gerne länger miteinander unterhalten würden«, sagt Deichmann. Es sei schade, dass für längere Gespräche kaum Zeit bleibe – denn die Auslieferung muss ja weitergehen.
FREUDE Die Freude, dass jemand an sie gedacht und sie mit Speisen versorgt hat, ging sogar so weit, dass sich der Verein der Schoa-Überlebenden »Phönix aus der Asche« öffentlich im Gemeindeblatt »Jüdisches Berlin« bedankt hat. »Insgesamt versorgen wir 280 Beter«, sagt Naomi Birnbach. Mittlerweile gehören der Vorbereitungsgruppe mehr als zehn Personen an, dazu kommen noch Freunde und Verwandte, die die Fahrdienste übernehmen. Auch für den Kiddusch nach dem Gottesdienst wird extra ein Essen-to-go vorbereitet. Finanziert wird die Aktion über Spenden.
»Wir wollen etwas Gutes tun und die Gemeinde zusammenhalten«, sagt Deichmann. Für viele sei die Corona-Situation schwierig, und deshalb sollen die Menschen merken, dass die Gemeinschaft sie auffängt. Und sie möchten auch zeigen, was die Religion ausmacht, so Birnbach. Zu Pessach vor 18 Monaten fingen sie mit dem Mitzwa Express an, nun sind sie schon bei der Planung für Chanukka.
Über den Mitzwa Express haben sich Naomi Birnbach und Rachel-Shadeé Deichmann wiedergefunden, denn sie besuchten zusammen die Kita und verloren sich dann aus den Augen. Nun sehen sie sich häufiger, um alles zu planen.
FAMILIE »Es gibt immer viel zu tun zu Rosch Haschana«, sagt Elka Malkova, Mutter von fünf Kindern. Die Tischdecke muss aus dem Schrank genommen werden, ebenso die Deko-Artikel, denn das Haus soll schön sein. »Das will man ja eigentlich immer, aber ganz besonders zu Neujahr.«
Den Karpfen, der immer schwer zu bekommen ist, hat Elka Malkova schon bestellt.
Die Familie besitzt einen Apfel aus Porzellan, der nur in diesen Tagen genutzt wird. Da ihr Mann arbeitet, wird sie wahrscheinlich den Einkauf gemeinsam mit ihren Kindern übernehmen. Den Karpfen, der immer schwer zu bekommen ist, hat sie schon bestellt. Wie auch andere Symbole gehört der Fischkopf ebenfalls auf den Tisch. Zum Gebet wird die Familie in die Synagoge Münstersche Straße gehen, aber anschließend ist es eine Familientradition, dass sich alle zum gemeinsamen Essen bei ihnen treffen.
»Ob die Großeltern die Fahrt auf sich nehmen werden, wissen wir derzeit noch nicht, denn sie leben in Dresden.« Zwei Feiertage sind es, an denen die Familie vier Mahlzeiten mit Verwandten und Freunden einplant. So etwa 15 Leute werden immer mitspeisen. »Ich genieße das Gesellige immer sehr, ich finde es schön.«
SCHOFAR Schon vor Rosch Haschana bläst ihr Mann jeden Tag für die Familie das Schofar. Und auch Taschlich werden sie machen: Ihr Ehemann wird mit zwei Kindern und anderen Männern ans Wasser gehen, sie hingegen mit Frauen und ihrer ältesten Tochter.
Es sind die Tage der Umkehr. »Man ist niemals mit sich zufrieden«, sagt die 48-Jährige. Das Jahr habe sie mit Gottes Hilfe gut geschafft, aber es gebe immer Kleinigkeiten, die man besser machen sollte, und sie habe sich ein paar Fehler gemerkt, die sie im nächsten Jahr vermeiden möchte, sagt sie lachend.