Porträt der Woche

Zurück zur Essenz

Alexandre Malkov ist Chirurg und versteht sich als Instrument Gottes

von Helmut Kuhn  26.12.2021 23:13 Uhr

»Seit meiner Kindheit wusste ich, dass wir anders waren«: Alexandre Malkov (48) lebt in Berlin Foto: Chris Hartung

Alexandre Malkov ist Chirurg und versteht sich als Instrument Gottes

von Helmut Kuhn  26.12.2021 23:13 Uhr

In meinem Dasein spielt das Russische eine Rolle. Literatur, die ich lese, ist meist auf Russisch; auch die jüdische Welt habe ich zuerst auf Russisch kennengelernt. Als ich mein Buch auf Russisch zu schreiben begann, machte ich mir keine großen Gedanken. Vielleicht wäre es für die Familie? Vielleicht würde ich Erinnerungen zu Papier bringen? Dann stellte ich mir eine Frage: Was ist wirklich wichtig im Leben?
Ich bin seit 23 Jahren in Deutschland, und jenes Buch spiegelt mein Leben.

Leitfaden ist die Beziehung zur Jüdischkeit. Meine Geschichte beginnt in Russland und in der Studienzeit; ich wuchs auf ohne besondere Beziehung zum Judentum, das sehr im Verborgenen blieb, damals. Im Laufe des Schreibens veränderte sich das Buch. Es wurde mehr und mehr zu einer Botschaft für Menschen, die einen ähnlichen Weg gehen, der ein Weg ist zu Gott, zur Religion, die versuchen, zu sich zu finden

In meinem Pass hatte der Standesbeamte »Russe« statt »Jude« eingetragen – so konnte ich studieren.

Stellen Sie sich vor, Sie haben einen Freund, und Sie sagen ihm: Es tut mir leid, ich kann nicht mehr mit dir am Wochenende picknicken, ich möchte in die Synagoge gehen und Schabbat halten. Ich versuche zu beschreiben, wie ich es empfunden habe. Wie kann ich das machen, ohne in Konflikte mit meinen Freunden zu geraten? Die interessante Entwicklung ist: Es kommt eine Phase, in der man versteht, dass es gar keine Konflikte gibt – sondern nur eine Bereicherung.

Aber ich beginne einmal von vorn. Ich bin geboren 1973 in der Stadt Orjol in der gleichnamigen Oblast, einem Bezirk etwa 360 Kilometer südlich von Moskau, auf halbem Wege zum Schwarzen Meer gelegen. Es herrschten strenge Winter, der Kalte Krieg, Leonid Breschnew und die Kommunistische Partei. Meine Eltern lebten dort seit dem Zweiten Weltkrieg. Meine Großeltern waren aus Witebsk im heutigen Belarus gekommen, Mutter erzählte, dort hungerten die Menschen. Meine Familie war jüdisch; und das war ein Problem.

KINDHEIT Unsere Religion durften wir offiziell nicht ausüben. Großvater ging heimlich in eine Synagoge, die sie »Stube« nannten, zum Beten. Meine Eltern waren damit aufgewachsen, dass man nicht darüber sprechen durfte, dass man Jude ist. Es konnte die Karriere behindern – oder Schlimmeres bereithalten. Vater war Hochschullehrer und Dekan einer Pädagogischen Fakultät, Mutter Lehrerin für Musik an einem Konservatorium.

Wir wohnten in einem Haus am Fluss Oka im Zentrum der Stadt, die geprägt ist durch zwei Flüsse, die sich vereinigen, wie Inn und Donau in Passau, weshalb ich mich Jahrzehnte später als Oberarzt in dieser Stadt auch so wohlgefühlt habe.
Meine Kindheit war glücklich, ich absolvierte die Schule mit silberner Medaille und wollte Arzt werden, Chirurg. Meine Eltern sorgten sich. Es stand zu befürchten, dass ich keinen Studienplatz bekommen würde. Aber es klappte, und das nur dank eines Fehlers des Standesamtes.

In meiner Geburtsurkunde hatte der Beamte als Nationalität »Russe« eingetragen. Womöglich tat er es absichtlich, so genau konnte Mutter das nicht sagen. Denn wenn man in Russland als Jude geboren wurde, stand im Pass nicht »Russe«, sondern »Jude«. Als wären wir ein anderes Land. Merkwürdig. Es verhielt sich wie »Jude« und »Judentum«: Beides scheint mir untrennbar miteinander verbunden zu sein, seit wir vor mehr als 3000 Jahren am Berg Sinai die Tora empfangen haben und das jüdische Volk und die jüdische Religion zugleich entstanden.

AUSWANDERUNG Ich wurde also zum Studium an der Universität in Woronesch aufgenommen. Die Stadt lag rund 400 Kilometer von meinem Zuhause entfernt. Ich fuhr zwölf Stunden mit dem Zug. Dann fiel der Eiserne Vorhang. Boris Jelzin wurde der erste demokratisch gewählte Präsident.

Gegen Ende des Studiums heiratete ich. Wir bekamen eine Tochter. Ich konnte als Chirurg keine Anstellung finden. Wir wollten nach Israel, und dann bestand plötzlich die Möglichkeit, nach Deutschland zu gehen. Ein Jahr nach meinem Abschluss, 1997, gelangten meine Familie und ich nach Chemnitz in Sachsen.

Ich bekam die Anerkennung meines Diploms, sogar ziemlich schnell. Ich wollte endlich den weißen Kittel tragen und nahm die erstbeste befristete Stelle in Leipzig an. Ich wechselte oft in dieser Zeit: nach Dresden, Rothenburg ob der Tauber, wieder nach Dresden. Im Klinikum Dresden-Friedrichstadt spezialisierte ich mich auf Handchirurgie und konnte den Facharzt der neu entstandenen Disziplin Orthopädie und Unfallchirurgie erwerben.

Acht Jahre arbeitete ich in Friedrichstadt. Das war die Zeit, in der sich alles ändern sollte, und dann wurde ich abgeworben, wie man so sagt, nach Passau. Kaum zwei Jahre später, 2015, gingen wir nach Berlin. Es war das erste Mal, dass ich eine Entscheidung nicht im Sinne meiner Karriere traf – ich hatte nicht einmal einen Job in Aussicht.

SÄNGER Es ist nicht plötzlich passiert. Seit meiner Kindheit wusste ich, dass wir anders waren. Nur mit bestimmten Menschen hatten meine Eltern über jüdische Dinge gesprochen, jüdische Schauspieler, überhaupt über Juden. Das hat mir ein Gefühl der Wärme gegeben, wo ich sonst Minderwertigkeit verspürt hatte und meine Jüdischkeit selbst gegenüber Freunden geheim hielt.

In Russland gibt es einen Künstler, einen Sänger, der auch Arzt war, Alexander Rosenbaum. Bei einer Veranstaltung an unserer Universität trat er mit einem Davidstern auf, weithin sichtbar an einer Halskette. Das war sehr mutig, damals. Prompt schrie jemand aus der Menge: »Warum tragen Sie den Davidstern?« Rosenbaum reagierte gelassen. Er wollte wissen, wer die Frage gestellt hatte. »Ich will dir in die Augen sehen«, sagte er. Niemand meldete sich. »Ich sehe, du bist ein Feigling, aber ich möchte dir antworten: Ich trage den Stern, weil ich Jude bin!« Da spürte ich: Jude zu sein, ist etwas Besonderes. Etwas Stolzes. Es war wie eine Botschaft.

Selbst als ich nach Deutschland kam, hatte ich noch das Gefühl, ich sollte das nicht zeigen, meine Jüdischkeit.

Man bekommt viele Botschaften im Leben. Kleine und große Ereignisse formen die Persönlichkeit. Es ist eine Folge von Ereignissen. Selbst als ich nach Deutschland kam, hatte ich noch das Gefühl, ich sollte das nicht zeigen, meine Jüdischkeit. Bis ich einen hebräischen Schriftzug an einem Gebäude las und dachte: Wow, was für mutige Menschen. Ich brachte in Erfahrung, dass es eine Synagoge von Chabad Lubawitsch war.

Ich traf dort Menschen, die Freude hatten, Juden zu sein, und sich keine Sorgen machten, dass sie anders oder besonders waren. Das hat mich beeindruckt. Nicht besser, aber anders.

BERUF Ich verstand, dass jeder Mensch eine Aufgabe hat, die von Gott kommt – wie jedes Volk. Meine Seele begann einfach, mitzuschwingen, in Resonanz zu kommen. Ich wusste, ich bin ein Teil dieser Gemeinschaft. Das hat auch meine Einstellung zu meinem Beruf verändert.

Ich weiß jetzt, dass der Arzt ein Instrument in den Händen Gottes ist. Nach einem Israel-Besuch verteidigte ich – an Purim – meine Doktorarbeit in Leipzig und trug erstmals öffentlich die Kippa.

Das war für mich keine leichte Entscheidung. Kennen Sie den Witz: Was ist der Unterschied zwischen Gott und einem Chirurgen? Antwort: Gott denkt nicht, dass er Chirurg ist.

Warum gingen wir also nach Berlin? Ganz einfach. Meine Frau und ich wollten, dass unsere fünf Kinder eine jüdische Schule besuchen. Ich bekam eine Stelle am Klinikum in Luckenwalde und pendelte täglich. Im Sommer dieses Jahres machte ich mich selbstständig mit einer Praxis für Orthopädie, Chirurgie und Handchi­rurgie am Ku’damm.

ERFOLG Ich höre oft von erfolgreichen Menschen, ihr Erfolg komme von Gott, und sie hätten eine Mission zu erfüllen. Je mehr man eine Verbindung zu Gott und ein Verständnis für diese Mission entwickle, desto mehr könne man mit Erfolg rechnen. Es sei wie WLAN, sagen sie. Wenn die Verbindung nicht steht, kommen auch keine Nachrichten auf dem Handy an. Es hängt von uns selbst ab. Wir sind das Endgerät. Der Sender ist immer und überall.

Wir sind das Endgerät. Der Sender ist immer und überall.

Mein Buch ist fertig. Es erschien im vergangenen Jahr unter dem Titel Der Sinn des Lebens – Rückkehr zu sich im russischen Verlag Knizhniki. Ich übersetze es jetzt zusammen mit meiner Tochter ins Deutsche.

Man sagt, wenn ein Mensch sich verändert, kehre er zurück zu sich, zu seiner Essenz. Ich möchte anfügen: zu Gott.

Aufgezeichnet von Helmut Kuhn

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