Wie werden die jüdischen Gemeinden der Zukunft aussehen? Die Frage ist nicht unberechtigt, denn längst hat sich nach der Euphorie über die Zuwanderung zu Beginn der 90er-Jahre Skepsis über die Überlebensfähigkeit kleiner Gemeinden breitgemacht. Faktisch ist die Zuwanderung seit der Novellierung des Kontingentflüchtlingsgesetzes 2005 gestoppt. Und wie vor der Zuwanderung drohen die Gemeinden zu überaltern.
Umso mehr muss das religiöse Fundament gestärkt werden, haben sich Michael Grünberg und Judith Neuwald-Tasbach gedacht und vor einiger Zeit den Bund Traditioneller Juden (BTJ) gegründet. Inzwischen ist der BTJ ein eingetragener Verein mit etwa 9.000 Mitgliedern. Er gehört dem Zentralrat der Juden in Deutschland an und wird von ihm finanziell unterstützt.
Traditionelle Werte zu vermitteln beginnt man am besten im Kindesalter. Doch bei einem hohen Prozentsatz jüdischer Jugendlicher, deren Eltern und Großeltern in einem religionsfeindlichen Land lebten, konnte dies nicht geschehen. Nur wenige Zuwanderer kamen mit einem fundierten Wissen über ihre Religion.
Hier gelte es anzusetzen, weiß auch Judith Neuwald-Tasbach, Gemeindevorsitzende in Gelsenkirchen. Kleinere und mittlere Gemeinden seien nicht in der Lage, solches Basiswissen zu bieten, »zumal, wenn sie keine Rabbiner oder Vorbeter haben«, sagt Neuwald-Tasbach. Diese Gemeinden müssten dabei unterstützt werden, Menschen langsam ans Judentum heranzuführen und ihnen zu vermitteln, wie sie die Religion in ihren Alltag integrieren.
jugend Um die Jugend und junge Erwachsene zu erreichen, hat der BTJ jetzt die Gruppe von Jewish Experience mit ins Boot geholt. Ihr Schatzmeister Meir Lisserman will speziell 16- bis 32-Jährige ansprechen und sie ein- bis zweimal im Jahr aus ganz Deutschland an einem Ort zusammenbringen. Das bereits seit zehn Jahren bestehende Programm der »3-Rabbiner-Seminare« ist eine Möglichkeit, junge Leute anzusprechen. »Dieses Format, in einer entspannten Atmosphäre jüdische Werte kennenzulernen, hat ungeheuer an Popularität gewonnen«, sagt Lisserman.
Außerdem habe er die Erfahrung gemacht, dass es hervorragende Möglichkeiten zur Vernetzung bietet. »Die jungen Leute melden sich in der Regel unabhängig voneinander an, lernen sich auf dem Seminar kennen und schaffen Verbindung.« Darauf ließe sich aufbauen. »Sie erleben Gemeinsamkeit, erfahren, dass sie nur gemeinsam etwas bewirken und stecken sich gegenseitig an in dem Gedanken, Religion zu leben.«
Gerade dieses Vorleben von Judentum ist die Basis des neuen Konzepts, das der BTJ in Kooperation mit Jewish Experience und der Gruppe Shearim aus Nordrhein-Westfalen anbieten möchte. »Früher haben die Kinder von ihren Eltern gelernt, wie das Judentum funktioniert. Über dieses Programm versuchen wir, das Wissen über die Kinder an die Eltern zu bringen.« Die Gelsenkirchener Gemeindevorsitzende hat die Erfahrung gemacht, dass Kinder, die regelmäßig in den Gottesdienst kommen, immer häufiger von ihren Eltern begleitet werden.
Überregional Das Programm solle auf das ganze Bundesgebiet ausgedehnt werden, betont BTJ-Vorsitzender Grünberg. Zum nächsten Schabbaton in Frankfurt Ende des Monats haben sich auch Jugendliche aus den ostdeutschen Gemeinden wie Rostock, aus Sachsen und aus Halle angemeldet. Die Moraschagruppen, kleinere Lerneinheiten, fungieren dabei als regionale Stützpunkte des traditionellen Gedankens.
Wichtig ist Grünberg in diesem Zusammenhang, dass die Jugendlichen nicht aus den Gemeinden herausgenommen werden, sondern über regionale Programme in die Gemeinden wirken sollen. »Ich kann mir vorstellen, dass eines der nächsten Treffen in Rostock stattfinden könnte«, erklärt Grünberg. Die Wege sind kurz, und die Kosten werden gering gehalten.
Um diese Programme zu erarbeiten, trifft sich der Vorstand des BTJ regelmäßig. Das offizielle Büro ist in Osnabrück beheimatet. Der designierte Geschäftsführer Illya Manulis ist Vorsitzender von Shearim in Essen und lebt in Bochum. In Zeiten von Facebook ist die räumliche Entfernung kein Problem. Wichtig sei, so Manulis, zu wissen, dass man sehr wohl mit wenig Mitteln viel erreichen kann.
Er ist sich sicher, mithilfe der Angebote eine feste Basis traditionellen Judentums legen zu können. »Wenn wir nur einen Jugendlichen dafür begeistern, er jüdisch heiratet, seine Kinder traditionell erzieht, so werden wir eine reiche Ernte haben.« Tradition vorleben ist seine Devise, für die er Ideen entwickelt hat, die vom gemeinsamen Einkauf koscherer Lebensmittel bis zum Erleben traditionellen Judentums in Familien reicht.
Vorleben Er selbst sei ein gutes Beispiel, dass ein solches Konzept Erfolg haben kann. Vor zwölf Jahren ist er mit seiner Familie aus einer kleinen – »aber sehr jüdischen« – ukrainischen Stadt nach Deutschland gekommen. Vor etwa sechs Jahren habe er die richtigen Leute zur rechten Zeit getroffen, die ihn für ein traditionelles jüdisches Leben begeistern konnten.
»Ich glaube, es ist ein guter Weg, Gemeindeleben zu erhalten«, sagt Neuwald-Tasbach. »Wenn in den Gemeinden junge Familien Judentum nicht richtig erfahren, sind sie irgendwann weg, und dann sind besonders die kleinen Gemeinden existenziell gefährdet«. Es sei das Ziel des BTJ, hier eine Alternative zu bieten.