Porträt der Woche

Zurück ins Land der Eltern

Liliana Goldstein de Kühne stammt aus Argentinien und folgte ihrer großen Liebe

von Gerhard Haase-Hindenberg  07.09.2024 20:49 Uhr

»In den ersten Monaten hier in Braunschweig kamen mir während der Gottesdienste regelmäßig die Tränen«: Liliana Goldstein de Kühne (77) Foto: privat

Liliana Goldstein de Kühne stammt aus Argentinien und folgte ihrer großen Liebe

von Gerhard Haase-Hindenberg  07.09.2024 20:49 Uhr

Meine Mutter ist als ältestes von fünf Geschwistern in Krakau geboren worden. Über mehrere Zwischenstationen wurde ihre Familie schließlich in Berlin ansässig. Meine Großeltern väterlicherseits kamen aus Lemberg nach Berlin, und so sind meine Eltern beide dort groß geworden. Sie lernten sich kennen, heirateten 1935 und konnten, quasi als »Hochzeitsreise« getarnt, nach Argentinien fliehen. Wie sie mir später erzählten, hatten sie lange überlegt, ob sie wirklich noch einen jüdischen Menschen auf diese Welt bringen wollten. Dann aber wurde ich im Jahr 1947 in Buenos Aires geboren.

Dort gab es damals viele jüdische Gemeinden. Allein in dem Stadtteil, in dem wir gewohnt haben, lagen fünf Synagogen in unmittelbarer Nähe. Allerdings haben meine Eltern kein besonders ausgeprägtes jüdisches Leben geführt. Meine Mutter hatte es irgendwann satt, an den Hohen Feiertagen in die Synagoge zu gehen, wo unter den Frauen eine Art Modenschau ablief mit passenden Hüten, Taschen, Schuhen. So war damals der Zeitgeist. Das wollten meine Eltern nicht mehr mitmachen.

Kindergarten und Schule

Nichtsdestotrotz haben sie mich in einem jüdischen Kindergarten angemeldet, wo wir natürlich alle Feiertage begingen. Danach besuchte ich zunächst eine englische Grundschule. In der Oberstufe wechselte ich zur deutschen Pestalozzischule, die bereits im Jahr 1934 als Reaktion auf die nationalsozialistische Gleichschaltung der deutschsprachigen Schulen in Argentinien gegründet worden war. Es ist zwar keine jüdische Schule gewesen, aber wenn wir zu Rosch Haschana oder Jom Kippur in der Synagoge waren, passten die restlichen Schüler in ein einziges Klassenzimmer.

Es gab auch noch zwei andere deutsche Schulen in Buenos Aires, da aber gingen bevorzugt die Kinder der Nazis hin, von denen inzwischen ja auch viele in Argentinien lebten. Übrigens wohnte Adolf Eichmann nicht allzu weit von uns entfernt. Das aber erfuhren wir erst einige Zeit, nachdem der Mossad sich dieses Ungeheuer geschnappt hatte. In meiner Familie war das kein Thema, wie auch die Schoa nie eines war. Nicht nur an der Pestalozzischule, sondern auch bei uns zu Hause wurde überwiegend Deutsch gesprochen. Niemals aber hörte ich zwischen meinen Eltern oder bei anderen Bekannten, die aus Deutschland oder Österreich gekommen waren, einen Satz, der mit »Weißt du noch, damals …?« begann. Sie hatten mit dieser Vergangenheit abgeschlossen.

Studieren war nicht mein Ding, lieber wollte ich Sekretärin werden.

Als ich etwa 15 Jahre alt war, habe ich von mir aus den Schritt in die jüdische Gemeinde gemacht. Allerdings gab es damals noch keine Batmizwa, sondern nur die Barmizwa für Jungs. Aber in den Jugendgruppen wurden Vorträge angeboten, und als ich etwas älter war, ging ich an Purim oder Chanukka zu den Bällen. Ich nahm also am sozialen jüdischen Leben teil. Zu Hause jedoch fand das Judentum kaum statt. Wir hatten zwar noch die Schabbesleuchter der Großeltern, aber die Kerzen wurden nie angezündet.

Zu dieser Zeit entwickelte sich in Buenos Aires ein organisierter Antisemitismus. Synagogen wurden beschmiert, weshalb sie fortan von der Polizei bewacht werden mussten. Nach meinem Schulabschluss habe ich eine Handelsschule besucht. Studieren war nicht mein Ding, ich wollte viel lieber Sekretärin werden. Das wurde ich dann auch in einem großen internationalen Unternehmen, wo ich für die Abteilung Import-Export zuständig war.

Im Sommer 1976 – als es auf der Nordhalbkugel Winter war – bekam ich Besuch von meinem Cousin aus den USA. Er reiste mit seiner Familie weiter nach Rio de Janeiro, um dort einen anderen Zweig der Familie zu besuchen. Sie fragten mich, ob ich Lust hätte mitzukommen. Das machte ich und besuchte eines Tages mit einer angeheirateten Cousine den Strand von Ipanema. Dort war auch eine Gruppe junger deutscher Männer. Einer sah die ganze Zeit zu mir herüber, und ich erwiderte seinen Blick.

Hals über Kopf nach São Paulo

Bald darauf begann eine wilde Zeit. Hals über Kopf bin ich mit diesem jungen Deutschen, der heute mein Mann ist, nach São Paulo gereist. Er hat dort bei VW gearbeitet. Als mein Urlaub zu Ende war, flog ich Anfang März zurück nach Buenos Aires und sagte zu meiner Mutter: »Ich habe in Rio am Strand einen jungen Deutschen kennengelernt, er ist kein Jude, und am 9. Juli ziehe ich zu ihm nach São Paulo.«

Während sich meine Mutter noch von diesem Schock erholen musste, kümmerte ich mich sofort um eine Privatlehrerin für Portugiesisch. Während seines Osterurlaubs kam dann mein deutscher Freund zu uns nach Buenos Aires und stellte sich meiner Mutter vor. Meine Eltern lebten inzwischen getrennt, und meinen Vater hatte ich zunächst noch verschont. Zum Abschied sagte meine Mutter: »Wenn unsere Mädchen das Haus verlassen, so tun sie das, um zu heiraten!« Und die Antwort meines Freundes war: »Gut, das werden wir uns überlegen.« Er reiste zurück nach São Paulo, wo auch ich bald eintraf.

Es war für mich nicht einfach, in Brasilien ein Arbeitsvisum zu bekommen und eine passende Stelle zu finden. Elf Monate später begleitete ich meinen heutigen Mann nach Deutschland. So kam ich nach Braunschweig, wo wir schließlich geheiratet haben. Als ich das meiner Mutter am Telefon mitteilte, fragte sie, wie ich jetzt heißen würde. Ich hatte mich für einen Doppelnamen entschieden: Goldstein de Kühne. Natürlich hätte ich auch wie mein Mann nur Kühne heißen können. Nun aber lebte ich in Deutschland, und da wollte ich mit meinem Mädchennamen Goldstein als Teil der Geschichte dieses Landes präsent sein.

All die Goldsteins, Weinsteins, Mandelbaums

Meine Mutter war entsetzt. Sie hatte Deutschland wegen dieses Namens verlassen müssen. Warum also wollte ich ihn nun in diesem Land unbedingt tragen? Die Juden, sagte sie, hätten genug gelitten, all die Goldsteins, Weinsteins, Mandelbaums. Wenn ich schon in Deutschland leben würde, solle ich nicht auch noch einen jüdischen Namen mit mir herumschleppen. Ich aber habe mich hier vom ersten Tag an wohlgefühlt, wozu sicher beigetragen hatte, dass es keinerlei sprachliche Probleme gab.

Schon bald wurde unser Sohn Vincent geboren, und als ich meine Mutter in Bue­nos Aires anrief, fragte sie mich, ob ich ihn habe taufen lassen. Wie kam sie nur auf eine solche Idee? Im nächsten Moment verstand ich, dass bei ihr, obgleich bei uns zu Hause nie über die Schoa gesprochen wurde, die Verfolgung noch immer präsent war.

In Mexiko wurde unsere Tochter Nadja geboren.

Nach zwei Jahren wurde mein Mann von seinem Arbeitgeber nach Mexiko geschickt, wo unsere Tochter Nadja geboren wurde. Ende 1988 kamen wir schließlich endgültig zurück nach Braunschweig. Nun erst fand ich den Weg in die hiesige jüdische Gemeinde. In den ersten Monaten kamen mir während der Gottesdienste in der kleinen Synagoge regelmäßig die Tränen. Die Melodien von Louis Lewandowski und anderen Komponisten kannte ich aus meiner Jugend. Bei gelegentlichen Besuchen in Buenos Aires traf ich auf der Straße ehemalige Schulfreunde oder Gemeindemitglieder, die ich seit Jahrzehnten kannte. Das war in Braunschweig natürlich nicht der Fall. Nun aber holte mich hier eine Vergangenheit ein, die ich sonst in dieser Stadt nicht hatte.

Eines Tages sagte mein Mann zu mir, er wolle mich noch einmal heiraten. Wie aber sollte das gehen? Das Standesamt würde uns ja kein zweites Mal verheiraten, unter der Chuppa aber konnte ich nur einen Juden heiraten. Als ich ihm das sagte, gab er mir zu verstehen, dass er genau das gemeint habe. Er hatte sich schon seit Jahren mit dem Judentum beschäftigt und war in der Braunschweiger Gemeinde sehr aktiv, wenn es beispielsweise um IT-Fragen und anderes ging. Nun wandte er sich an Jonah Sievers, der damals in Braunschweig unser Rabbiner war, um überzutreten.

Drei Jahre ging mein Mann nun regelmäßig zu ihm zum Unterricht. Auf Wunsch des Rabbiners kam ich jedes Mal mit, auch zum Beit Din nach Berlin. Inzwischen hatten wir meine Mutter aus Argentinien zu uns geholt, aber leider erlebte sie nicht mehr, dass sie einen jüdischen Schwiegersohn bekam. Die letzte Amtshandlung, die Rabbi Sievers in der Braunschweiger Gemeinde vornahm, war, mich mit meinem nun jüdischen Mann unter der Chuppa zu verheiraten.

Aufgezeichnet von Gerhard Haase-Hindenberg

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