Markenzeichen des Journalisten Tuvia Tenenbom ist es, unterwegs zu sein, ob unter Deutschen (2012), Juden (2014), Amerikanern (2016), Flüchtlingen (2017) oder Briten (2020). Die Zahlen stehen für die Erscheinungsjahre seiner dazugehörigen Bücher. Das jüngste, das ihn wieder unter Juden, nämlich speziell ultraorthodoxe, führte, stellte er auf Einladung des Kulturzentrums der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern im Jüdischen Gemeindezentrum vor.
Seine Exkursionen lesen sich oft wie Ausflüge auf andere Planeten. Tenenboms jüngste Reportage Gott spricht Jiddisch. Mein Jahr unter Ultraorthodoxen brachte ihn zurück in eine Welt, die für ihn bis zu seinem 20. Lebensjahr eine »hejmische« gewesen war.
Sprössling einer ultraorthodoxen Familie
Warum der 1957 in Tel Aviv geborene Sprössling einer ultraorthodoxen Familie beschloss, nach seinem Militärdienst nach New York zu gehen, enthüllte er in einem erkenntnisreichen Zwiegespräch mit Ellen Presser. Es zog ihn nach dem Studium weltlicher Fächer möglichst weit weg von der Familie; speziell seiner Mutter, einer Holocaust-Überlebenden, die er durch seinen Entschluss nicht beschämen wollte. Die Aussicht auf ein Stipendium führte ihn schließlich, mit 400 Dollar in der Tasche, an die Yeshiva University, nur um zu erfahren, dass er als Israeli keinen Anspruch darauf hatte.
So landete er am Touro College, jobbte noch ohne ausreichende Englischkenntnisse als Taxifahrer und verbrachte die nächsten 15 Jahre an allen möglichen Universitäten damit, Mathematik, Computer- und Theaterwissenschaften sowie englische Literatur zu studieren. Sein Vater, laut Tenenbom ein mystischer Charedi, wünschte sich einst, dass sein jüngstes Kind der größte jüdische Gelehrte werden möge. Als er vom Berufswunsch des Sohnes hörte, bat er seinen Schöpfer, dass er dann wenigstens der bedeutendste Dramatiker werde. Er sagte zu Tuvia: »Du ringst mit Gott, also glaubst du.«
Tenenbom bewertet nicht, sondern notiert, was die Leute sagen und tun.
Sexualität hält der Journalist für eine zentrale Triebfeder dieser Welt, darum wird in seinem Buch viel darüber gesprochen. Tenenbom bewertet nicht, sondern notiert, was die Leute sagen und tun. Wieso die »Frumen« ihm, dem Aussteiger, vertrauten? Einer sagte: »Wenn du Jiddisch sprichst, spricht dein Großvater zu unserem Großvater. – Wir sind eine Familie.« In Mea Shearim fühlte er sich wohl.
Der Unterschied liege darin, dass Mea Shearim in Jerusalem – entstanden vor der Staatsgründung – chassidisch und international sei, Bnei Brak dagegen litwisch, mitnagdisch, eine eher abgeschlossene Enklave für ihre 200.000 Bewohner. Mentalitätsmäßig sei der Unterschied ähnlich groß wie zwischen Hamburg und Bayern, eine These, mit der Tenenbom das Publikum einmal mehr zum Lachen brachte.
Tuvia Tenenbom: »Gott spricht Jiddisch. Mein Jahr unter Ultraorthodoxen«. Suhrkamp, Berlin 2023, 576 S., 20 €