Albrecht Weinberg hält seine Hand fest um seinen Gehstock. Er hält ihn, obwohl er sitzt, ab und an fasst er nach, blickt in den Saal und auf den Tisch vor sich. Ein kleines Bild steht dort. Eine Fotografie aus jungen Jahren, daneben liegt der gelbe Stern, den er tragen musste.
Wenn der 97-jährige Weinberg seinen Blick durch den Saal des Auswärtigen Amtes schweifen lässt, sieht er in die Gesichter von über 70 Schülerinnen und Schülern. Und sie alle schauen ihn an, den kleinen Mann im blauen Pullover, blauen Hemd und schwarzer Jacke, den Mann mit Brille und kurzem grauen Haar. »Moin, moin, moin«, beginnt er die Schilderungen aus seinem Leben, das 1925 begann.
Freunde »Moin, moin, moin, ich bin der Albrecht Weinberg. So sagen wir das in Ostfriesland.« Und da sind sie, die Schülerinnen und Schüler: mitten im Leben des kleinen Albrecht, der gern mit Murmeln spielte, der Freunde hatte und für den sich mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten alles änderte. Von da an war er nicht mehr Albrecht, er war »de Jööd«, der Jude.
Weinberg ist neben Franz Michalski einer der hochbetagten Schoa-Überlebenden, die im Rahmen der #WeRemember-Kampagne des World Jewish Congress nach Berlin gekommen sind. Die Israelische Botschaft und der Zentralrat der Juden unterstützen das Projekt, das sich in diesem Jahr ausdrücklich der Begegnung mit Zeitzeugen widmet. »Diese Gespräche sind gerade für junge Menschen von unersetzlichem Wert. Sie sind die größte Motivation, sich für eine bessere Welt einzusetzen. Eine Welt ohne Ausgrenzung, ohne Menschenfeindlichkeit und Gewalt«, sagte Zentralratspräsident Josef Schuster vor Beginn der Woche.
Zentralratsvizepräsident Abraham Lehrer betonte am Montag im Auswärtigen Amt: »Dass die Zeitzeugen sich zu Wort melden und erzählen, was damals passiert ist, das hat große Relevanz für uns alle.« Er erinnerte daran, dass der 27. Januar vor 20 Jahren als Gedenktag für die Opfer der Schoa festgelegt wurde. »Erst 2005 haben ihn die Vereinten Nationen offiziell zum internationalen Gedenktag gemacht.« Aber: »Wir Juden brauchen keinen solchen Tag. Die meisten von uns haben die Schoa in ihren Familiengeschichten.«
»Zeigen Sie Zivilcourage. Schreiten Sie ein!«
ZENTRALRATSVIZE ABRAHAM LEHRER
Lehrer rief die Jugendlichen auf, »Zivilcourage zu zeigen«. »Wenn Sie auf Fremdenfeindlichkeit, Rassismus, Antisemitismus stoßen, zeigen Sie Zivilcourage. Schreiten Sie sofort ein!« Als Weinberg ein Kind war, tat das niemand. Seine Freunde spielten nicht mehr mit ihm, sein Vater musste sein Gewerbe aufgeben, »man hat uns alles weggenommen bis aufs letzte Hemd«, sagt er im Gespräch mit Sandra Witte von der Israelischen Botschaft.
Mila und Helin hören zu. Die beiden Teenager des Heinz-Berggruen-Gymnasiums in Charlottenburg-Wilmersdorf erfahren, wie Weinberg mit seinen Eltern nach Berlin gehen, wie er Zwangsarbeit leisten musste, wie er mit Hunderten anderen in Güterwaggons gepfercht wurde, wie er in Auschwitz über Körper steigen musste und die »Todesmärsche« überlebte – halb verhungert, halb lebend.
Das alles zu hören, zu verarbeiten, das ist schwer und fast nicht machbar für die beiden jungen Frauen. Ihre Augen sind rot vom Weinen. Helin hat sich ihren Schal umgehängt und hält sich an ihm fest. Vor wenigen Augenblicken saß ihre Schulfreundin Helen neben Albrecht Weinberg. Gemeinsam hatten sie sich Fragen ausgedacht. Doch was möchten Teenager von einem 97-Jährigen wissen? »Wie sind Sie mit dem Erlebten umgegangen?«, »Wie stellen Sie sich Erinnerungskultur vor?«, »Wie war die Auswanderung?« oder »Haben Sie je mit Ihrer Schwester über das Durchlebte gesprochen?«.
Hölle Weinberg antwortet geduldig, beugt sich etwas zu den Schülerinnen und Schülern, um besser zu hören. »Man wollte wieder leben, man ist einigermaßen wieder Mensch geworden«, versucht er es den Schülern zu erklären. Helene, Mila, Helin und Anni hören aufmerksam zu. Sie sind 14 Jahre alt, einige schon 15. Es ist das Alter, in dem Weinberg »durch die Hölle gegangen ist«, sagt er.
»Jeder hat einen anderen Kopf auf der Schulter und denkt auch anders. Wenn so fanatische Sachen wieder den Kopf heben, dann müssen Sie dagegenhalten. Wenn einer den Mund hält, dann ist es zappenduster.« Das gibt er den Jugendlichen mit auf den Weg. Sie stellen sich um ihn für das Bild und stehen hinter ihm. In der Mitte ein großes Schild: »#WeRemember«.
Weitere Informationen unter: https://weremember.worldjewishcongress.org