Die schmalen, fünf Meter hohen Fenster fallen schon von Weitem auf. Solche Fenster hat kein anderes Wohnhaus in den Dörfern in der nördlichen Pfalz. Durch das hohe Glas fällt so viel Licht, dass es sich drinnen anfühlt, als sei der Sommer zurückgekehrt und alles Trübe an diesem Septembertag eine Sinnestäuschung. Riesig wirkt auch der Raum selbst mit seinen 65 Quadratmetern, sechs Meter hohen Wänden und der Gewölbedecke.
Bis in die 20er-Jahre war er eine Synagoge. An der östlichen Seite ist eine Vertiefung in der Wand zu sehen – dort befand sich der Toraschrein, der heute im Historischen Museum der Pfalz in Speyer eingelagert ist. Später wohnten hier Ziegen, Gerümpel verstellte den Blick. Die Aura des Besonderen ist jedoch geblieben.
Gabriele Mergenthaler hat ein Gespür für außergewöhnliche Orte. Sie ist 45 Jahre alt, Architektin und hat ihre Doktorarbeit über die Baugeschichte des Benediktiner- und Zisterzienserklosters Disibodenberg in Rheinland-Pfalz geschrieben, in dem Hildegard von Bingen ihre Klause hatte. Seit vielen Jahren engagiert sie sich im Historischen Verein Nordpfalz dafür, dass die Geschichte des Landstrichs nicht vergessen wird.
geschichte Vor fünf Jahren erfuhr Mergenthaler, dass in einem der Dörfer die alte Synagoge verkauft werden sollte. Sie fürchtete, Menschen ohne Sinn für Geschichte könnten das Gebäude von 1765 kaufen und zu Eigentumswohnungen umbauen. Da kaufte sie es lieber selbst. Doch jetzt möchte sie es gerne wieder loswerden, das Haus wächst ihr über den Kopf.
Wo früher die Gläubigen beteten, hat sich Mergenthaler einen Salon eingerichtet. Auf den gelben Sandsteinboden hat sie einen großen Perserteppich gelegt. An den Wänden stehen Sofas und Stühle, die sie auf Dachböden und Flohmärkten gefunden und vor dem Holzwurm gerettet hat. »Seitdem ich eine Synagoge habe, sammle ich alte Möbel«, sagt sie, und ihre großen braunen Augen leuchten.
In einer Ecke steht ihr Klavier, in einer anderen hat sie einen Tisch mit Kuchen gedeckt. Sie erzählt, wie sie auf einer Leiter balancierend die Fenster gestrichen, die bunten Glaseinsätze neu gekittet und wie sie das Haus wochenlang entrümpelt hat. Draußen im Hühnerstall fand sie zwei Plastiksäcke und einen alten Koffer. Sie waren voller hebräischer Schriften, Kippot, Gebetsbücher, Gebetsriemen.
Interesse »Ach, du liebe Zeit«, rief Andreas Lehnardt aus, als sie ihm ihre Entdeckung zeigte. Er unterrichtet Judaistik an der Universität Mainz. Die Funde hat Mergenthaler dem Landesarchiv in Speyer übergeben. Den evangelischen Pfarrer, von dem die Architektin das Haus gekauft hat, interessierten die Judaika offenbar nicht. Er hat auch den vormals blauen Anstrich der Gewölbedecke mit den goldenen Sternen weiß überpinselt.
Mergenthaler ist katholisch. Seitdem sie eine Synagoge »hat«, liest sie viel über jüdische Geschichte und Tradition. Manchmal lädt sie sich Wissenschaftler ein, die in der früheren Synagoge Vorträge halten, befreundete Musiker geben Konzerte. Eine Notiz im Wochenblatt genügt, damit aus der ganzen Nordpfalz Kulturinteressierte kommen.
STudium Ein Durchgang verbindet den früheren Betsaal mit der Küche, an die sich ein Bad und ein Wohnraum anschließen. Hier hat früher der Lehrer gewohnt. Eine enge Treppe führt ins Obergeschoss, wo einst zwei Dutzend Schüler über Tora und Talmud brüteten.
In dem heute 2000 Bewohner zählenden Dorf, in dem Gabriele Mergenthaler wohnt, gab es vor dem 30-jährigen Krieg zwei jüdische Familien. Im 18. und 19. Jahrhundert, als der Abbau von Sandstein die Dörfer wohlhabend machte, wuchs die jüdische Gemeinde auf 22 Familien. Es gab eine Mikwe, einen jüdischen Wohltätigkeitsverein, einen eigenen Friedhof. Ende des 19. Jahrhunderts war Sandstein nicht mehr so gefragt, viele Dörfler verarmten und wanderten aus. 1916 wurde die jüdische Schule mangels Schülern geschlossen, 1933 die Synagoge an einen Bauern verkauft. Die letzten vier jüdischen Einwohner, vier alte Frauen, deportierten die Nazis ins Konzentrationslager nach Gurs in Südfrankreich.
Renovierung Gabriele Mergenthaler hat die schiefen Wände und Decken neu verputzt. Sie fährt jetzt mit der Hand an einer Wand entlang, die sich an einer Stelle leicht nach vorne wölbt. Sie vermutet, dass sich auch hier alte Schriften verbergen. Beim Verputzen sei sie auf etwas gestoßen, was wie ein Einband aus Pergament aussah. Sie traute sich nicht, tiefer nachzuforschen, aus Angst, die Wand könnte durchbrechen.
Vor zwei Jahren beobachtete die Architektin, wie ein Riss in der Gewölbedecke des Betsaales immer größer wurde. Auf dem Dachboden suchte sie nach der Ursache – und fand Erstaunliches. Mergenthaler geht die Stiege zum Dachboden hinauf und weist in die Ecken. Hier hat sie an zwei Stellen die Holzpanelen des Bodens aufgebrochen. Zwischen Mörtel und Staub schauen Papierfetzen mit hebräischen Schriftzeichen hervor. »Das ist die Geniza«, sagt sie. Es ist der Ort, an dem die jüdische Gemeinde alte Torarollen, Gebetsbücher, Rechnungen und Verzeichnisse aus dem Gemeindeleben verwahrte. Schriften, in denen Gott erwähnt wird, dürfen nicht einfach in den Müll geworfen werden. Sie werden aufbewahrt.
Funde Sogar Hochzeitsurkunden und Liebesbriefe hat Mergenthaler gefunden. Zwei Kubikmeter haben Andreas Lehnardt und Elisabeth Singer von der Uni Mainz aus dem Versteck herausgeholt – vermutlich nur ein Bruchteil. Das bislang älteste Dokument stammt von 1534.
Mergenthaler möchte, dass alles wissenschaftlich aufgearbeitet wird. Ihr größter Wunsch aber ist, dass das Haus wieder zu jüdischem Leben erwacht. »Am liebsten wäre mir, eine jüdische Familie würde mir das Haus abkaufen«, sagt sie. 2015 wird es 250 Jahre her sein, dass die Synagoge gebaut wurde. »Wäre doch toll, wenn es zum Geburtstag einen jüdischen Gottesdienst in der Synagoge gäbe«, sagt sie. Eine Maklerin sucht bereits nach Käufern.