»Sind wir alt? Nein, wir sind betagt!«, rufen Larissa Nikolajewna und Tatjana Abramowna gleichzeitig und lächeln. Die 83-jährigen Frauen, die sich auf Russisch lediglich mit Vor- und Vatersnamen vorstellen, sitzen in einem Zimmer im Frankfurter Seniorenheim der Henry und Emma Budge-Stiftung bei Tee und Kuchen. Beide wirken an diesem trüben Aprilnachmittag aufgeweckt und humorvoll. Ihre Mühen und Sorgen lassen sich die Damen kaum anmerken.
Dabei ist es keine drei Wochen her, dass sie ihre Heimatstadt Kiew verließen und mit einem Ambulanzwagen mit wenig Gepäck nach Frankfurt gebracht wurden. Larissa Nikolajewna und Tatjana Abramowna gehören zu den Schoa-Überlebenden, die Ende März aus der Ukraine gerettet und in mehreren jüdischen Pflegeheimen in Deutschland untergebracht werden konnten.
netzwerk Ein durch die Claims Conference aufgebautes Netzwerk, zu dem die Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland (ZWST), das Auswärtige Amt und das Joint Distribution Committee (JDC) gehören, organisierte die Rettungsaktion.
»Kiew wurde bombardiert, Menschen starben«, berichtet Tatjana Abramowna über ihren Alltag seit dem russischen Überfall auf die Ukraine. Man spürte Erschütterungen, Sirenen waren zu hören. Sie habe fast aufgehört, vor die Tür zu gehen.
Man spürte Erschütterungen, Sirenen waren zu hören, berichtet Tatjana Abramowna über ihren Alltag in der Ukraine.
Einmal hätten Raketensplitter ein nahe gelegenes Wohnhaus getroffen: »Ich stand unter Schock.« Dann, so Tatjana Abramowna, kam ein Anruf: Es gebe die Möglichkeit, evakuiert zu werden. »Ich habe sofort zugesagt. Wir wurden von der Angst um unser Leben vertrieben«, sagt sie.
Hauptstadt Kennengelernt haben sich die beiden Damen unterdessen erst im Budge-Heim, wo sie am 25. März ankamen. Sie haben zuvor in unterschiedlichen Bezirken der ukrainischen Hauptstadt gelebt. Larissa Nikolajewna, die früher als Lektorin gearbeitet hat, erzählt, sie sei in Kiew geboren und dort familiär seit mehreren Generationen verwurzelt. Die Epidemiologin Tatjana Abramowna kommt gebürtig aus Odessa. In Kiew sei sie aber schon »seit ein paar Jahren« – seit 1966. Beide Frauen überlebten die Schoa als Kinder.
In Deutschland waren sie noch nie gewesen, Sprachkenntnisse fehlen ihnen daher. Beide interessieren sich für Frankfurts Sehenswürdigkeiten und Museen. Erst einmal aber sehen sich Larissa Nikolajewna und Tatjana Abramowna mit Alltagsproblemen und fehlenden Informationen konfrontiert: Lassen sich ukrainische Griwna in Euro umtauschen? Sind Frankfurter Busse und Bahnen für ukrainische Geflüchtete kostenlos? Wo kauft man ein alltagstaugliches russisch-deutsches Wörterbuch? Und wo gibt es kostenlose Telefon-Karten?
Kontakt Während Tatjana Abramowna alleinstehend ist und zumindest teilweise über ihr Smartphone kommunizieren kann, sorgt sich Larissa Nikolajewna, die nur ein herkömmliches Mobiltelefon besitzt, um ihren 25-jährigen Enkel, der als Soldat derzeit in Irpin hilft, die von der russischen Armee zerstörte Stadt aufzuräumen.
Im Seniorenheim der Budge-Stiftung fühlen sich die Frauen herzlich aufgenommen und gut umsorgt. »Der Rabbi kümmert sich um alle Probleme«, lobt Tatjana Abramowna Rabbiner Andrew Steiman. Er ist an diesem Nachmittag viel im Haus unterwegs, hat die Damen aber zwischendurch auf Russisch begrüßt. »Hier leben einige russischsprachige Juden«, berichtet Tatjana Abramowna. Man stehe miteinander in Kontakt. »Man lässt uns hier nicht hängen oder traurig sein.«
In der Synagoge wurden die beiden Damen wie Stars empfangen.
Eine der neuen Bekanntschaften hat Tatjana Abramowna eine Packung Mazze geschenkt, die sie nun stolz präsentiert. Auf das Pessachfest freuen sich Larissa Nikolajewna und Tatjana Abramowna: »Wir werden in der Synagoge mit unserem Rabbi Steiman sein.« Sie waren schon zum Schabbat-Gottesdienst dort – und wurden mit Blumen, »wie Stars«, empfangen. Während Tatjana Abramowna in Kiew regelmäßig die Brodsky-Synagoge besucht hat, berichtet Larissa Nikolajewna, sie habe dort nicht am jüdischen Gemeindeleben teilgenommen.
Heimweh Wie geht es nun weiter? »Man muss es nüchtern sehen«, sagt Tatjana Abramowna. »Ein Jahr wird man hier verbringen müssen.« Bei aller Dankbarkeit über ihre Rettung verspürt Larissa Nikolajewna unterdessen starkes Heimweh nach Kiew.
Wenn sie nur zu Besuch in Frankfurt wäre, würde es ihr hier gefallen. »Doch der Krieg hat den Eindruck getrübt. Ich bin hier zu Gast, aber zu Hause bin ich in Kiew«, betont Larissa Nikolajewna. Bei der ersten Möglichkeit möchte sie in ihre Heimatstadt zurückkehren. Und dann sind da Details wie der Main, in dem man, im Gegensatz zum Dnjepr, nicht schwimmen darf: »Was ist das für eine Stadt?« Larissa Nikolajewna blickt kurz aus dem Fenster, während Frankfurt im Aprilregen versinkt, und sagt: »Wenn wir zurückkommen, dann wird das Wetter gut sein.«