Am dritten Tag der Hauptverhandlung stand die Vernehmung zahlreicher Zeugen auf dem Programm. So hatte die 26. Große Wirtschaftskammer am Landgericht Frankfurt unter der Leitung des Vorsitzenden Richters Jörn Immerschmitt etliche Stammkunden der A & L Aviv GmbH eingeladen.
Sie alle wurden gebeten zu schildern, wie viel und welches Fleisch sie von dem Geschäft bezogen und bei wem sie die Ware meistens bestellt hatten. Auch über die Liefer- und Zahlungsmodalitäten ließ sich das Gericht genauestens informieren.
Neben dem materiellen Schaden, der den Kunden dadurch erwachsen war, dass sie vermutlich für billiges herkömmliches Fleisch den deutlich höheren Preis der koscheren Produkte gezahlt hatten, ging es auch darum, die religiöse Beschädigung, die durch den Betrug entstanden war, zu ermessen. So erklärte ein Zeuge, dass das nachträgliche Wissen, eventuell unkoscheres Fleisch gegessen zu haben, ihn wie eine »Sünde« plage: »Das verletzt unsere Gefühle.«
Vertrauen Insgesamt zeigte sich, dass die Kunden ihrem Fleischhändler bis zuletzt vertraut hatten; kaum einem der Befragten war die Farbe oder Beschaffenheit des Fleisches jemals ungewöhnlich oder verändert vorgekommen, sodass er Verdacht geschöpft hätte, dass da irgendetwas nicht ganz koscher sein könne.
Auch der Küchenleiter der Emma-und-Henry-Budge-Stiftung, einem Alten- und Pflegeheim in Frankfurt, das für seine jüdischen Bewohner eine separate koschere Küche mit extra Kühlraum und hauseigenem Maschgiach unterhält, hatte nie Zweifel an der Herkunft und Qualität des Fleisches gehegt, wie er vor Gericht erklärte. »Hätte ich wissentlich unkoscheres Fleisch aufgetischt, hätte mich das meinen Job gekostet«, sagte er.
Dabei spielte die Tatsache, dass die Metzgerei von Aviv unter der Aufsicht des Rabbinats Frankfurt stand, wohl eine entscheidende Rolle: »Wir haben dem Rabbiner vertraut. Er ist für uns der oberste Gutachter dafür, dass das Fleisch koscher ist«, erklärte ein anderer Zeuge, dessen Haushalt streng nach der Kaschrut geführt wird
Konventionell Der zweite Prozesstag gegen die beiden ehemaligen Geschäftsführer des koscheren Lebensmittelgeschäftes »Aviv« in Frankfurt begann mit einer Überraschung: Beide Angeklagten ließen durch ihre Verteidiger schriftliche Aussagen verlesen, in denen sie einräumen, tatsächlich Etikettenschwindel begangen und konventionelles Fleisch als koscher deklariert und verkauft zu haben.
Den beiden 56 und 48 Jahre alten Männern, die jahrelang für die A & L Aviv GmbH in Frankfurt tätig waren, wird vorgeworfen, die Kundschaft ihres Lebensmittelhandels während eines Zeitraums von zwei Jahren absichtlich über die wahre Herkunft und Beschaffenheit des Fleisches getäuscht zu haben, um das im herkömmlichen Schlachthof erworbene Fleisch als wesentlich teureres koscheres Produkt anbieten zu können.
Insgesamt sollen auf diese Weise etwa 40.000 Kilogramm Fleisch unter irreführender Kennzeichnung als »glatt koscher« verkauft worden sein. Den dabei entstandenen Schaden beziffert die Staatsanwaltschaft auf rund 557.000 Euro.
Insolvenz »Ich war für alles rund um das Fleisch zuständig und verantwortlich«, gab der 56 Jahre alte Angeklagte, ein gelernter Metzger, gleich zu Beginn seiner schriftlichen Erklärung an. So sei ihm, als der Steuerberater 2010 eröffnete, dass dem Geschäft wegen verringerter Einnahmen die Insolvenz drohe, »die Idee gekommen, nicht nur koscheres Fleisch illegal aus dem Ausland zu beziehen, sondern vor allem auch billiges Fleisch auf dem Frankfurter Großmarkt zu kaufen, um eine günstigere Spanne zwischen An- und Verkaufspreis zu erzielen«.
Gleichzeitig aber hätten ihn auch Gewissensbisse geplagt, weshalb er sich bemühte, das konventionelle Fleisch nicht nur gemäß der in den Kaschrut vorgeschriebenen Verfahrensweise zu verarbeiten, sondern es außerdem strikt vom koscheren Fleisch zu trennen. So habe er das Fleisch immer persönlich vom Schlachthof abgeholt und im Betrieb abgesondert gelagert.
Um es zu »kaschern«, um es noch mehr ausbluten zu lassen und um Blutgefäße aus dem Gewebe herauszulösen, habe er außerdem stets an einem besonderen Tisch gearbeitet und ein spezielles Brett verwendet, das er extra auf mehrere Kartons legte, unter denen sich wiederum ein Brett befand. Anschließend habe er das Fleisch in eine Salzwasserlösung getaucht.
metzgerei Das Brett und die Messer, die nur er benutzt haben will und die ansonsten in einem Köcher am Eingang zur Metzgerei aufbewahrt worden seien, reinigte er nach eigenen Angaben mit kochendem Wasser. Die Kartons brachte er in den Keller, um sie später wegzuwerfen. Außerdem betonte der 56-Jährige, dass er niemals einem Kunden einen Mix aus koscherer und unkoscherer Ware verkauft, sondern die Trennung von beidem bis zuletzt aufrechterhalten habe.
»Kann Fleisch, das nicht koscher geschlachtet wurde, überhaupt nachträglich in koscheres verwandelt werden?«, will der Vorsitzende Richter Jörn Immerschmitt von dem Angeklagten wissen. Der schüttelt den Kopf: »Ich habe das gemacht, um mein Gewissen zu beruhigen.« Meist habe er das herkömmliche Fleisch schon am frühen Morgen verarbeitet und in einzelne Plastiktüten getan. Der Maschgiach, der fast täglich zur Kontrolle im Betrieb erschienen sei, habe dann auch diese Tüten mit dem Siegel für koscher versehen und verplombt. Manchmal, so der 56-Jährige, tat er das auch selbst: Aufkleber und Plomben wurden im Verkaufsraum aufbewahrt.
koscher light Der Mitangeklagte bezeichnete in seiner schriftlichen Einlassung die Praktiken seines Geschäftsführers als »koscher light«, in Bezug darauf, was dieser mit dem konventionellen Fleisch anstellte. Dem Buchhalter und Bürokaufmann des Betriebes war irgendwann aufgefallen, dass sich die Mengen von gekauftem koscheren Fleisch aus dem Ausland und der an der Ladentheke verkauften Ware unterschied. Also stellte er seinen Partner zur Rede. Der gab sofort zu, dass er »konventionelles Fleisch zu koscher light veredele«.
Er sei zunächst »geschockt« gewesen, beschreibt der 48-Jährige seine erste Reaktion auf diese Entdeckung. Aber noch heute grübele er darüber, warum er damals nicht ausgestiegen sei, was sein erster Impuls gewesen sei. »Ich wollte meine Familie nicht durch mein Scheitern belasten«, lautet die Antwort, die er darauf gefunden hat. Beide Männer entschuldigten sich in ihrer Erklärung bei allen Menschen, deren religiöse Gefühle sie durch ihr Handeln verletzt hätten.
Telefonate Im Laufe des Prozesses war aber anhand von mitgeschnittenen und öffentlich präsentierten Telefongesprächen deutlich, wie wenig Hemmungen der angeklagte Metzger bei der Beschaffung und Auslieferung von unkoscherem Fleisch hatte. »Wir müssen morgen früh ein paar Sachen machen und verschwinden lassen«, bat er einen Metzgerskollegen, der regelmäßig bei Aviv aushalf, um Unterstützung.
Denn: »Das richtige Fleisch-Programm können wir erst am Donnerstag bekommen, aber Nelly Sachs braucht unbedingt morgen was und die Budge-Stiftung auch, und die Mensa braucht 50 Kilogramm Hackfleisch und sowas«.
Demnach wurden also nicht nur die Altersheime in Düsseldorf und Frankfurt wissentlich mit unkoscherem Fleisch beliefert, sondern auch die Lichtigfeld-Schule in Frankfurt. Der Prozess wird fortgesetzt.