Nachruf

Zeuge bis zuletzt

Der Schoa-Überlebende Leon Schwarzbaum ist im Alter von 101 Jahren gestorben

von Christine Schmitt  17.03.2022 09:07 Uhr

Leon Schwarzbaum sel. A. (1921–2022) Foto: picture alliance/dpa

Der Schoa-Überlebende Leon Schwarzbaum ist im Alter von 101 Jahren gestorben

von Christine Schmitt  17.03.2022 09:07 Uhr

Die Fahrt zur Gerichtsverhandlung nach Brandenburg an der Havel war bereits bis ins kleinste Detail geplant, denn für Leon Schwarzbaum war es wichtig, im Sachsenhausen-Prozess gegen Josef S. dabei zu sein. Der Anwalt von Leon Schwarzbaum wollte die Rede des KZ-Überlebenden bei der Verhandlung vorlesen, während der 101-Jährige an seiner Seite sitzen sollte.

Doch wenige Tage vor dem Prozess ist Leon Schwarzbaum zu Hause in Potsdam friedlich gestorben. Nun wird der Rechtsanwalt die Rede ohne seinen Klienten vortragen müssen. Ein Foto von Leon Schwarzbaum soll im Gerichtssaal aufgestellt werden, sagt Hans-Erich Viet, der vor ein paar Jahren mit dem Film Der letzte Jolly Boy ein würdiges Porträt des Zeitzeugen und Schoa-Überlebenden geschaffen hat.

Bis zu seinem Lebensende wollte Schwarzbaum von seinen Erlebnissen während der Schoa berichten – was ihm fast gelungen wäre. »Ich sehe es als meine Aufgabe als Überlebender an, den Ermordeten eine Stimme zurückzugeben. Ich habe viel zu viel Schlimmes erlebt, als dass ich darüber schweigen könnte«, sagte er in einem Interview mit der Jüdischen Allgemeinen.

WÜRDE Allerdings konnte der frühere Antiquitäten- und Kunsthändler erst nach dem Tod seiner ersten Frau darüber sprechen. Je älter er werde, desto mehr erinnere er sich, sagte er. Dagegen könne man nicht ankämpfen. Er sei tief verletzt als Mensch, seine Würde sei ihm genommen worden, und eigentlich habe er alles während der Schoa verloren.

Er wirkte zuletzt zart und zerbrechlich und hatte immer ein bescheidenes, vornehmes Auftreten, beispielsweise bei einem Gespräch mit Anne Will im Centrum Judaicum vor ein paar Jahren oder als er zu Gast in der ZDF-Talkshow von Markus Lanz war.

Für seinen Einsatz als Zeitzeuge erhielt er 2019 das Bundesverdienstkreuz.

Mit 100 Jahren heiratete Leon Schwarzbaum seine langjährige Freundin Etta Schiller und verließ sein Haus im Grunewald mit den vielen Kunstwerken und den Sonnenuntergängen, die er von seiner Terrasse aus genossen hatte, um zu ihr nach Potsdam zu ziehen. Im vergangenen Sommer wurde er körperlich immer schwächer und spürte sein Alter – diese Immobilität passte ihm nicht, so Filmemacher Viet. Er habe öfters gesagt, dass ihm langweilig sei. Im Oktober war er beim Prozessauftakt in Brandenburg noch dabei, denn das war für ihn eine Herzensangelegenheit.

ZWANGSARBEIT Schwarzbaum war im Januar 1945 mit einem Todesmarsch nach Berlin gekommen und wurde in Spandau bei Siemens inhaftiert. Es war eines von vielen Nebenlagern des Konzentrationslagers Sachsenhausen. Bereits 2016 sagte er vor dem Landgericht Detmold als Zeuge im Prozess gegen den SS-Unterscharführer und Wachmann im KZ Auschwitz, Reinhold Hanning, aus.

Der in Hamburg gebürtige Leon Schwarzbaum entstammte einer Familie polnischer Juden. Mit seinen Eltern zog er in das oberschlesische polnische Bedzin. Als Jugendlicher sang und steppte er in der A-cappella-Gruppe Jolly Boys, die für den Dokumentarfilm namensgebend werden sollte. Nach dem Überfall der Nazis auf Polen wurde er im Ghetto Kamionka Telefonist, später Zwangsarbeiter im deutschen Galvanisierungsbetrieb Tönskemper.

1943 wurde die Familie Schwarzbaum in das Konzentrationslager Auschwitz deportiert und ermordet. Nur er überlebte. Er meldete sich als »Läufer« beim Lagerältesten. Deshalb habe er alles gesehen, was im Lager passierte, sagte er einmal.

todesmärsche Später musste er Zwangsarbeit im Siemens-Schuckert-Außenlager »Bobrek« leisten, schließlich folgten zwei Todesmärsche. In der Nachkriegszeit gelangte er schließlich mit Unterstützung der Fluchthilfe-Organisation des späteren Filmproduzenten Artur Brauner aus Polen nach Berlin.

Für seinen Einsatz als Zeitzeuge in Schulen, Gefängnissen und Krankenhäuser erhielt er 2019 das Bundesverdienstkreuz. Er verstand es als Anerkennung seiner Arbeit, wie er in einem Interview mit der Jüdischen Allgemeinen betonte. Und widmete es den sechs Millionen Opfern der Schoa.

In den Schulen sei er auch oft gefragt worden, ob er vergeben könne, was er verneinte.

In den Schulen sei er auch oft gefragt worden, ob er vergeben könne, was er verneinte. »Ich kann niemals vergeben, dass 35 Angehörige meiner Familie bestialisch ermordet wurden.« Doch seit dem Tod seiner Frau sei es für ihn immer wichtiger geworden, Zeugnis abzulegen, sagte Schwarzbaum oft. Er müsse sprechen: Er spreche für die Toten. »Das mache ich im Namen meiner Eltern.«

ANTEILNAHME Leon Schwarzbaum wurde geschätzt, was sich auch an der jetzigen Anteilnahme zeigt. »Mit großer Trauer, Hochachtung und Dankbarkeit verabschieden sich Überlebende des Holocaust in aller Welt von ihrem Freund, Leidensgenossen und Weggefährten, der in den letzten Jahrzehnten seines Lebens zu einem der wichtigsten Zeitzeugen der Schoa geworden ist«, teilte das Internationale Auschwitz Komitee mit.

Der Zentralrat der Juden twitterte: »Seine Stimme gegen das Vergessen wird sehr fehlen.« Die israelische Botschaft schrieb: »Wir trauern um einen wunderbaren, zurückhaltenden, starken und humorvollen Menschen, der in allen Lebenslagen eine tiefe innere Würde ausstrahlte.«

Der Stiftungsdirektor der Gedenkstätte Sachsenhausen, Axel Drecoll, teilt mit, dass »der Tod von Leon Schwarzbaum uns mit tiefer Trauer erfüllt, mich ganz persönlich, aber auch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Gedenkstätte Sachsenhausen, der er über viele Jahre eng verbunden war«.

dankbarkeit Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier schrieb an Etta Schiller: »In großer Dankbarkeit und Hochachtung erinnere ich mich an die Begegnungen mit Ihrem Mann, die in mir einen tiefen und bleibenden Eindruck hinterlassen haben. Mit dem Tod von Leon Schwarzbaum haben wir einen großen Verlust erlitten. Ihr Mann wird immer einen Platz in meinem Herzen haben.«

Der Filmproduzent Hans-Erich Viet hat noch viel Material über Leon Schwarzbaum, das für einen weiteren Film reichen würde. Er sucht nun nach Unterstützung für das Projekt.

Makkabi

Aus der Sukka zur Maccabiah

Im kommenden Jahr erwartet die Makkabäer der große Wettbewerb in Israel. Nun kamen die Athletinnen und Athleten zum Training zusammen

von Stefan Laurin  31.10.2024

Virtual Reality

Virtuelle Charlotte Knobloch führt durch das München von 1938

In einem neuen Virtual-Reality-Projekt führt ein Avatar von Charlotte Knobloch durch München während der Pogromnacht 1938

von Christiane Ried  30.10.2024

Frankfurt

Raum für Debatten

Die Jüdische Akademie und die Goethe-Universität unterzeichnen einen Kooperationsvertrag. So wollen beide Institutionen die Verbundforschung stärken

von Doron Kiesel  30.10.2024

Staatsanwaltschaft Stuttgart

Anklage wegen Anschlagsplänen auf Synagoge in Heidelberg

Zwei junge Männer tauschen sich in Chats über mögliche Anschläge auf jüdische Einrichtungen in Heidelberg und Frankfurt am Main aus

 29.10.2024

Zeitz

Reinhard Schramm warnt vor Zweckentfremdung von Spendengeldern

Der Vorsitzende der Jüdischen Landesgemeinde Thüringen wirbt im Spendenstreit für Simon-Rau-Zentrum

 28.10.2024

Stuttgart

Lebensbejahende Botschaft

Die Israelitische Religionsgemeinschaft Württembergs feierte das Neujahrsfest

von Brigitte Jähnigen  27.10.2024

München

Wunden, die nicht heilen

Tausende zeigten auf dem Odeonsplatz Solidarität mit Israel. Die IKG lud am Jahrestag des Hamas-Massakers zu einem Gedenkakt in die Synagoge

von Luis Gruhler  27.10.2024

Oper

Kammeroper »Kabbalat Shabbat« in Berlin

Die Zuschauer werden zu einem Schabbatmahl eingeladen. Die Oper ist die erste, die auf Hebräisch in Deutschland interpretiert wird

von Christine Schmitt  23.10.2024

Kunstatelier Omanut

Beschallung mit wunderbaren Stimmen

Judith Tarazi über das erste Inklusions-Konzert, Vandalismus und offene Türen

von Christine Schmitt  22.10.2024