Frage die vorherigen Geschlechter.» Dieser Spruch Hiobs war für Dagmar Nick Ansporn und Anspruch zugleich, ihr Buch Eingefangene Schatten. Mein jüdisches Familientagebuch zu schreiben. Nick gilt als eine der wichtigsten deutschen Lyrikerinnen nach 1945.
Dennoch entschied sich die heute 90-Jährige diesmal nicht für das fiktionale Genre, um sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen. «Etwas zu erfinden, kam für mich nicht infrage. Ich wollte erzählen, was ich bei meinen umfangreichen Recherchen entdeckt habe.» Über drei Jahre verbrachte Nick nahezu täglich in Bibliotheken und Archiven, um ihren Vorfahren nachzuspüren.
Stammbaum Wer bei Nick nach Daten und Fakten sucht, wird zwar fündig – etwa im weit verästelten Stammbaum, der am Ende des Buches über fünf Seiten abgedruckt ist. Doch diese eingefangenen Schatten sind mehr als biografische Notizen: Vom seidenen Faden, an dem die Existenz ihrer Vorfahren oftmals hing, berichtet Nick. Im Jahr 1550 mit Moses Spanier, einem sefardischen Juden, der gerade nach Hamburg eingewandert war, beginnt die Geschichte von Nicks Familie. Schlaglichtartig arbeitet sie sich durch die Jahrhunderte bis in unsere Tage vor.
Dabei taucht auch so manche Berühmtheit auf, etwa die Kaufmannstochter Glikl von Hameln. Die Aufzeichnungen der Unternehmerin aus dem 16. Jahrhundert gelten als die erste bekannte und erhaltene Autobiografie einer Frau im deutschsprachigen Raum. Aus eigener Erinnerung kann Nick sprechen, wenn es um den berühmten und vor knapp einem Jahr verstorbenen Historiker Fritz Stern geht – er war ihr Cousin.
«Ich glaube fest daran, dass wir aus der Vergangenheit lernen können und müssen», sagt Nick. «Aber wenn ich mir die Welt heute so anschaue, frage ich mich, ob wir es tun.» Gerade deswegen reist sie trotz ihres Alters unbeirrt von Lesung zu Lesung, oft auch in Schulen. Dabei erzählt sie von den Wechselfällen des Schicksals, von Glück wie von Gewalt, aber vor allem von Familie. «Egal, wie schlimm die Ereignisse in der Welt waren, wenn ich nach Hause kam, dann wusste ich, dass ich dort bin, wo ich hingehöre, und dass wir zusammenhalten», beschreibt sie ihre Kindheit.
Flucht Nicks Mutter, die Konzertsängerin Käte Nick-Jaenicke, war Jüdin, ihr Vater, der Komponist Edmund Nick, hatte vor der Gleichschaltung beim Schlesischen Rundfunk in Breslau gearbeitet. Mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten verlor er seine Anstellung. Es folgten finanziell schwierige Jahre für die Familie, die bis 1944 in Berlin blieb. Erst nach der Bombardierung des Wohnhauses emigrierte sie ins damalige Böhmen zur Großmutter väterlicherseits. Ihren Erfahrungen gab Nick unmittelbar nach dem Krieg in ihrem Gedicht «Flucht» Ausdruck. Erich Kästner sorgte dafür, dass der Text der damals erst 19-jährigen Schriftstellerin 1945 in der «Münchner Neuen Zeitung» abgedruckt wurde.
«Für mich war das Schreiben immer ein Ventil. Wenn es mir schlecht ging, habe ich geschrieben. Wenn es mit gut ging, hingegen kaum.» Auch im hohen Alter braucht sie dieses Ventil noch, denn die Frage nach dem Warum von Krieg und Verfolgung und deren ständiger Wiederkehr lassen sie bis heute nicht los. Eine Antwort darauf, so schreibt sie am Ende ihres Buches, habe vielleicht ihr Cousin Fritz Stern gehabt. Doch was sie selbst betrifft: «Ich weiß es nicht.»
Dagmar Nick: «Eingefangene Schatten. Mein jüdisches Familienbuch». C. H. Beck, München 2015, 268 S., 24,95 €