Buch

Zeitzeugnis einer 90-Jährigen

Die Lyrikerin Dagmar Nick hat ihre Familiengeschichte von 1550 bis heute festgehalten – in Prosa

von Judith Werner  02.01.2017 18:45 Uhr

Foto: C.H.Beck

Die Lyrikerin Dagmar Nick hat ihre Familiengeschichte von 1550 bis heute festgehalten – in Prosa

von Judith Werner  02.01.2017 18:45 Uhr

Frage die vorherigen Geschlechter.» Dieser Spruch Hiobs war für Dagmar Nick Ansporn und Anspruch zugleich, ihr Buch Eingefangene Schatten. Mein jüdisches Familientagebuch zu schreiben. Nick gilt als eine der wichtigsten deutschen Lyrikerinnen nach 1945.

Dennoch entschied sich die heute 90-Jährige diesmal nicht für das fiktionale Genre, um sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen. «Etwas zu erfinden, kam für mich nicht infrage. Ich wollte erzählen, was ich bei meinen umfangreichen Recherchen entdeckt habe.» Über drei Jahre verbrachte Nick nahezu täglich in Bibliotheken und Archiven, um ihren Vorfahren nachzuspüren.

Stammbaum Wer bei Nick nach Daten und Fakten sucht, wird zwar fündig – etwa im weit verästelten Stammbaum, der am Ende des Buches über fünf Seiten abgedruckt ist. Doch diese eingefangenen Schatten sind mehr als biografische Notizen: Vom seidenen Faden, an dem die Existenz ihrer Vorfahren oftmals hing, berichtet Nick. Im Jahr 1550 mit Moses Spanier, einem sefardischen Juden, der gerade nach Hamburg eingewandert war, beginnt die Geschichte von Nicks Familie. Schlaglichtartig arbeitet sie sich durch die Jahrhunderte bis in unsere Tage vor.

Dabei taucht auch so manche Berühmtheit auf, etwa die Kaufmannstochter Glikl von Hameln. Die Aufzeichnungen der Unternehmerin aus dem 16. Jahrhundert gelten als die erste bekannte und erhaltene Autobiografie einer Frau im deutschsprachigen Raum. Aus eigener Erinnerung kann Nick sprechen, wenn es um den berühmten und vor knapp einem Jahr verstorbenen Historiker Fritz Stern geht – er war ihr Cousin.

«Ich glaube fest daran, dass wir aus der Vergangenheit lernen können und müssen», sagt Nick. «Aber wenn ich mir die Welt heute so anschaue, frage ich mich, ob wir es tun.» Gerade deswegen reist sie trotz ihres Alters unbeirrt von Lesung zu Lesung, oft auch in Schulen. Dabei erzählt sie von den Wechselfällen des Schicksals, von Glück wie von Gewalt, aber vor allem von Familie. «Egal, wie schlimm die Ereignisse in der Welt waren, wenn ich nach Hause kam, dann wusste ich, dass ich dort bin, wo ich hingehöre, und dass wir zusammenhalten», beschreibt sie ihre Kindheit.

Flucht Nicks Mutter, die Konzertsängerin Käte Nick-Jaenicke, war Jüdin, ihr Vater, der Komponist Edmund Nick, hatte vor der Gleichschaltung beim Schlesischen Rundfunk in Breslau gearbeitet. Mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten verlor er seine Anstellung. Es folgten finanziell schwierige Jahre für die Familie, die bis 1944 in Berlin blieb. Erst nach der Bombardierung des Wohnhauses emigrierte sie ins damalige Böhmen zur Großmutter väterlicherseits. Ihren Erfahrungen gab Nick unmittelbar nach dem Krieg in ihrem Gedicht «Flucht» Ausdruck. Erich Kästner sorgte dafür, dass der Text der damals erst 19-jährigen Schriftstellerin 1945 in der «Münchner Neuen Zeitung» abgedruckt wurde.

«Für mich war das Schreiben immer ein Ventil. Wenn es mir schlecht ging, habe ich geschrieben. Wenn es mit gut ging, hingegen kaum.» Auch im hohen Alter braucht sie dieses Ventil noch, denn die Frage nach dem Warum von Krieg und Verfolgung und deren ständiger Wiederkehr lassen sie bis heute nicht los. Eine Antwort darauf, so schreibt sie am Ende ihres Buches, habe vielleicht ihr Cousin Fritz Stern gehabt. Doch was sie selbst betrifft: «Ich weiß es nicht.»

Dagmar Nick: «Eingefangene Schatten. Mein jüdisches Familienbuch». C. H. Beck, München 2015, 268 S., 24,95 €

Oldenburg

Judenfeindliche Schmierereien nahe der Oldenburger Synagoge   

Im vergangenen Jahr wurde die Oldenburger Synagoge Ziel eines Anschlags. Nun meldet eine Passantin eine antisemitische Parole ganz in der Nähe. Die Polizei findet darauf noch mehr Schmierereien

 21.02.2025

Berlin

Wladimir Kaminer verkauft Wohnung über Facebook

Mit seiner Partyreihe »Russendisko« und vielen Büchern wurde Wladimir Kaminer bekannt. Für den Verkauf einer früheren Wohnung braucht er keinen Makler

 20.02.2025

Berlin

Eine krasse Show hinlegen

Noah Levi trat beim deutschen Vorentscheid für den Eurovision Song Contest an. In die nächste Runde kam er nicht, seinen Weg geht er trotzdem

von Helmut Kuhn  20.02.2025

Thüringen

Antisemitismus-Beauftragter soll »zeitnah« ernannt werden

Seit Dezember ist der Posten unbesetzt. Dem Gemeindevorsitzenden Schramm ist es wichtig, dass der Nachfolger Zeit mitbringt

 19.02.2025

Weimar

Erlebtes Wissen

Eine Fortbildung für Leiter jüdischer Jugendzentren befasste sich mit der Frage des zeitgemäßen Erinnerns. Unsere Autorin war vor Ort dabei

von Alicia Rust  18.02.2025

Bundestagswahl

Scharfe Worte

Über junge politische Perspektiven diskutierten Vertreter der Jugendorganisation der demokratischen Parteien in der Reihe »Tachles Pur«

von Pascal Beck  18.02.2025

Justiz

Vorbild und Zionist

Eine neue Gedenktafel erinnert an den Richter Joseph Schäler, der bis 1943 stellvertretender IKG-Vorsitzender war

von Luis Gruhler  18.02.2025

Emanzipation

»Die neu erlangte Freiheit währte nur kurz«

Im Münchner Wirtschaftsreferat ist eine Ausstellung über »Jüdische Juristinnen« zu sehen

von Luis Gruhler  18.02.2025

Portät der Woche

Magische Momente

German Nemirovski lehrt Informatik und erforscht den Einsatz Künstlicher Intelligenz

von Gerhard Haase-Hindenberg  16.02.2025