Rundreise

Zeitgeschichte auf Augenhöhe

Das Mädchen schaut den Betrachter direkt an. Es ist vielleicht fünf Jahre alt, hat die blonden Haare zu einem Puschel zusammengebunden – nach Art fünfjähriger Kinder irgendwie wild. An ihre linke Wange drückt es ein Kuscheltier. Die Mundwinkel zeigen nach unten. Aber es wirkt nicht wie ein trauriges Kind, das einen Wunsch nicht erfüllt bekommen hat. Das kann auch nicht sein.

Das Foto wurde 1945 aufgenommen, als das Mädchen aus dem KZ Mauthausen befreit wurde, und hängt in der Ausstellung »Kinder im KZ« in der Gedenkstätte Bergen-Belsen. Auf der Jacke trägt es einen roten Winkel mit dem Buchstaben F, dem Kennzeichen für politische Häftlinge aus Frankreich. Weitere Angaben über seine Herkunft sind nicht bekannt. Doch unwillkürlich fragt sich der Besucher: Wie kann eine Fünfjährige ein politischer Feind sein?

Kinder Die Ausstellung »Kinder im KZ« in der Gedenkstätte Bergen-Belsen geht nahe. Die Kinderporträts, ihre Kuscheltiere und die selbstgebastelten Puppen zeugen von der Zeit des Schreckens und machen deutlich, wie ihre Eltern versuchten, ein Stück Normalität für sie herzustellen, indem sie ihnen Spielzeug schenkten, um Hoffnung zu geben. Die Mutter eines Mädchens erfand zum Beispiel einen Hund, den sie auf eine Pappe malte. »Sie erzählte uns jeden Morgen, was er machte, wohin er ging, wen er traf und wen er fraß«, steht neben dem Foto im Wortlaut der kleinen Miriam, der am Tag der Befreiung von britischen Soldaten auf Tonband aufgenommen wurde.

Auch wenn die Ausstellung den Besucher emotional fordert, überwältigt sie ihn nicht. Sie regt zum Nachdenken an, aber erzeugt keine Schuldgefühle. Auch nicht bei den Jugendlichen aus ganz Europa, die die Ausstellung im Rahmen der Anne-Frank-Friedenstage besuchten. »Es berührt mich, aber auf eine positive Weise. Ich finde es gut, dass mich das alles zum Überlegen bringt«, sagt der 15-jährige Frank aus den Niederlanden. »Natürlich kann ich mir die Situation nicht vorstellen. Umso wichtiger, dass es diese Orte gibt«, meint er. »Aber schuldig fühle ich mich nicht.«

»Das war anders, als ich noch ein Kind war. In den 80er-Jahren gab es die Gedenkstätte, so wie sie heute besteht, noch nicht«, sagt Katharina Hoopmann aus der niedersächsischen Stadt Bergen, die die Anne-Frank-Friedenstage organisiert hat und die Jugendlichen begleitet. Damals habe es einen Raum mit überdimensionalen Fotos von Leichenbergen gegeben, und man habe stets einen erhobenen Zeigefinger gespürt, sagt sie.

Lernort Jeder, der heute durch die Gedenkstätte Bergen-Belsen läuft, merkt, dass diese Zeiten endgültig vorbei sind. Die Jugendlichen lernen, wie allumfassend das NS-System gewirkt hat und wer seine Opfer waren. Sie sollen sich ihr eigenes Urteil bilden können, ohne Zwang oder Überemotionalisierung. Sogar mit der Ausstellung »Kinder im KZ« gelingt diese sensible Informationsvermittlung.

»Ausstellungen wie die über die ›Kinder im KZ‹ bergen Chancen und Gefahren gleichermaßen, denn einerseits empören leidende Kinder wohl jeden und rütteln auf. Eine Gefahr besteht aber, wenn es zu einer Überemotionalisierung kommt«, erklärt Jens Christian Wagner, Direktor der Stiftung Niedersächsische Gedenkstätten: Wer im Schrecken verharrt, der kann schwer noch nachdenken und das Gesehene reflektieren. »Die Ausstellung von Bergen-Belsen versucht, diese Gefahren zu umgehen. Ganz bewusst setzt sie auf gestalterische und erzählerische Nüchternheit – das Thema ist schon emotional genug«, sagt Wagner.

Im Zentrum dieser Ausstellung stehen Selbstzeugnisse und originale Tonaufnahmen, die die befreiten Kinder selbst zu Wort kommen lassen. Und sie endet nicht mit der Befreiung 1945, sondern vermittelt, wie die Überlebenden mit der Situation danach umgegangen sind und wie ihnen die Gesellschaft begegnete.

NS-Täter Einen ganz anderen Blick auf die Zeit des Nationalsozialismus wirft die Berliner Topographie des Terrors. Sie besuchten die Jugendlichen einige Tage nach Bergen-Belsen. Bei der Topographie handelt es sich um ein Dokumentationszentrum, wo die Rolle der Täter in den Fokus genommen wird. Auch der Direktor der Stiftung,
Andreas Nachama, setzt auf nüchterne Vermittlung der Informationen.

»Erinnern heißt: aus der Vergangenheit lernen. Lernen kann man nur, wenn man analytisch und sachlich an das zu Lernende herantritt. Die Topographie des Terrors ist daher bewusst nicht als Gedenkstätte angelegt, sondern als Lernort, wo man etwas über die Strukturen des ›Dritten Reiches‹, aber auch über die Biografien der Täter erfahren kann und soll«, sagt Nachama.

»Man tritt der Vergangenheit auf Augenhöhe gegenüber, so wie man auch eine Mathematikaufgabe analytisch angeht und löst. Wenn man das Gelände wieder verlässt, sollte man sich wünschen, noch mehr aus der Vergangenheit zu lernen, um die Gegenwart und Zukunft gestalten zu können«, sagt Nachama. Noch bis zum 28. August wird in der Topographie des Terrors die Sonderausstellung »Der Volksgerichtshof 1934–1945. Terror durch Recht« gezeigt.

Urteil Der Volksgerichtshof – so lernt die Schulklasse hier – wurde 1934 von den Nationalsozialisten zur »Bekämpfung von Staatsfeinden« geschaffen. Bis Kriegsende mussten sich mehr als 16.700 Menschen vor diesem neuen obersten politischen Gericht verantworten, das ab 1942 jeden zweiten Angeklagten zum Tode verurteilte.

Auch diese Ausstellung informiert über die Entstehung und Organisation nüchtern – ungeschönt, undramatisch. Selbst da, wo sie anhand von Einzelschicksalen die Urteilspraxis darstellt. Die Ausstellung berichtet auch über den Umgang mit dem ehemaligen Gerichtspersonal nach 1945. »Das finde ich extrem gut gemacht«, sagt einer der Teilnehmer aus Tschechien. »Es ist für mich besonders interessant, bringt neben der Beschäftigung mit den Opfern noch eine ganz neue Perspektive. Die Beschäftigung mit den Tätern zeigt mir erst recht, wie relevant das Thema für uns heute ist.«

kinder-in-bergen-belsen.de
www.topographie.de

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