Bad Kissingen

Zeit zum Heilen

Beim Bildungsurlaub in Bad Kissingen waren auch die gestalterischen Fähigkeiten der Teilnehmer gefragt. Foto: Elik Roitstein

Das Trauma vom Anschlag an Jom Kippur in Halle sitzt tief. Ein Grund für die Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland (ZWST) rund 30 Gemeindemitglieder, die beim Attentat in der Synagoge waren, während der vergangenen zwei Wochen ins Kurheim Eden-Park nach Bad Kissingen zu einem Bildungsaufenthalt einzuladen, der von der Deutschen Fernsehlotterie finanziell unterstützt wurde. Körper und Geist sollen angesprochen werden.

Die Beter in der Synagoge erlebten hautnah mit, wie auf der Straße Schüsse fielen, und sahen durch die Überwachungskamera die Tote auf der Straße. Der Attentäter von Halle hatte am 9. Oktober mehrmals auf das Schloss der Eingangstür geschossen. Als er sie nicht öffnen konnte, hatte er wahllos eine Passantin auf der Straße niedergeschossen.

Entspannung Traumastabilisierung und Entspannung seien entsprechend die wesentlichen Ziele des Aufenthaltes in Bad Kissingen, erklärt ZWST-Direktor Aron Schuster. Die Teilnehmer sollen »Zeit für sich jenseits von Halle« haben und sich regenerieren können. Wichtig sei, dass sie sich nach dem »wochenlangen Krisenmodus« als Folge des Attentats in Bad Kissingen vor allem sicher fühlen können, sagt Schuster.

Im Eden-Park treffen die Hallenser auf eine 20-köpfige Gruppe aus Baden. Die Leitung liegt in den Händen von Elik Roitstein vom Landesverband der Israelitischen Religionsgemeinschaft Baden. Roitstein ist seit 1995 als Familienreferent ehrenamtlich für die ZWST tätig. Ihm zur Seite steht Iryna Mukha, die sich in der Jüdischen Gemeinde Marburg als Tanzgruppenleiterin ehrenamtlich engagiert.

Sicherheit Ihre Gäste stehen noch sehr unter dem Eindruck des Attentats, bemerkt Roitstein. Nur von Tag zu Tag bessert sich die Stimmung unter den Teilnehmern, sie können das Ereignis von Halle nicht wirklich vergessen. Wichtig sei, dass sich die Teilnehmer sicher fühlen. Dazu trägt das Programm – eine Mischung aus musischer Betätigung und psychologischer Betreuung – wesentlich bei.

»Ich glaube, Musik und Tanz sind die beste Medizin für diese Leute«, sagt Roitstein. Das kann auch Iryna Mukha bestätigen. Sie beobachtet ebenfalls, dass sich die Stimmung der Teilnehmer während der gemeinsamen Zeit in Bad Kissingen nach und nach sehr verbessert.

Die Gäste stehen noch sehr unter dem Eindruck des Attentats.

Bemerkenswert findet die Marburgerin, dass sich zeigt, wie viele Hallenser große künstlerische Talente entwickeln. »Viele Leute schreiben selbst«, berichtet sie: Gedichte, autobiografische Erinnerungen an die Kindheit und den Zweiten Weltkrieg. »Die ganze Palette von lustig bis traurig.« Kreativität diene in diesem Zusammenhang ebenfalls der Traumabewältigung. »Die Teilnehmer sagen, es tut ihnen sehr gut, dass sie hier sind«, hat die Marburgerin festgestellt. »Sie haben eine ganz andere Stimmung als zu Hause.«

Konsequenterweise bilden Musik und Tanz neben der permanenten psychosozialen Betreuung durch die Berliner Psychotherapeutin Noa Kanter und die Beraterin Viktorija Kopmane vom Berliner OFEK – der Beratungs- und Interventionsstelle bei antisemitischer Gewalt und Diskriminierung des Kompetenzzentrums für Prävention und Empowerment (ZWST) – einen Schwerpunkt des Programms im Haus Eden-Park.

Kurkonzert So besuchen die Hallenser und Badener am zweiten Tag ihres Aufenthalts gemeinsam ein Kurkonzert. Da sich die Teilnehmer auch selbst in das Programm einbringen sollen, steht am selben Tag nach Kaffee und Kuchen das »Kennenlernen und Suchen nach Talenten« auf dem Programm. Der Tag klingt mit einem »Jüdischen Musikabend«, geleitet von Ludmila Engel und Anna Polytchuk, aus.

Das gemeinsame Singen stimmt auf den dritten Abend ein, es ist Schabbat. Den Gottesdienst am Samstag leiten Rabbiner Shimon Großberg aus Hanau und Itzhak Nadel.

Am folgenden Sonntag steht vor allem Bewegung auf dem Programm: Nach Gymnastik und Tanz am Morgen informiert Facharzt Ernest Katzev über Erste Hilfe bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen bei Senioren, Prävention, Therapie und Osteoporose sowie Sport im Alter. Die jüdische Geschichte von Erfurt ist Thema des Vortrags von Inna Kurzbach. Doch es bleibt nicht bei der Theorie, denn die Tanzgruppe »Hora Hedera« der Jüdischen Gemeinde Erfurt tritt anschließend im Eden-Park auf – ein Pantomime-Abend mit Arnold Sarajinski beschließt den Tag.

Die Teilnehmer gestalteten unter anderem einen Haussegen.

Am nächsten Tag ist die kreative Ader der Teilnehmer gefragt – sie sollen einen Haussegen gestalten. Unter Anleitung des Kunsttherapeuten Costa Bernstein nutzen zahlreiche Teilnehmer das Angebot, Spiritualität und Gestaltungsfähigkeit nachhaltig zu verbinden. Glück, Gesundheit, Gebet lauten die Themen dieser Einheit, die der Aktivierung der Teilnehmer dient.

Israelische, jiddische und russische Lieder bringen eine weitere Seite der musischen Elemente in den Tag. Doch auch Probleme der Gegenwart werden nicht ausgespart. So informiert der Delegierte von Keren Hayesod Frankfurt, Simon Soesan, über »Israel nach den Wahlen«.

Highlight Ein »Highlight« des Bildungsaufenthaltes ist der Ausflug der Gruppen aus Baden und Halle in das oberfränkische »Weltkulturerbe« Bamberg. Nach einer Führung durch das ehemalige jüdische Viertel empfängt die Jüdische Gemeinde der Barockstadt die Gäste aus Halle und Baden. Die Vergangenheit im weiteren Sinn nimmt am nächsten Tag Religionslehrer Benni Pollak in den Blick: Er spricht mit den Gästen über »Jüdische Erinnerungen«.

Ein musikalischer Höhepunkt ist das Abendkonzert der Staatsbad Philharmonie Kissingen.

Eine musikalische Reise mit Leiter Elik Roitstein beschließt den Tag. Ein weiterer musikalischer Höhepunkt ist das Abendkonzert der Staatsbad Philharmonie Kissingen. Schwung und Jugendlichkeit vermittelt das Konzert des Duos mit der charmant-virtuosen Pianistin Anna Tyshaeva und dem charismatischen Ausnahmegeiger Michel Gershwin an einem weiteren Abend.

Gegenwart Die Verknüpfung der glanzvollen Vergangenheit und Fragen der Gegenwart sind ebenfalls Thema im reichhaltigen Angebot. Ein weiterer Ausflug führt die Seminarteilnehmer nach Würzburg. Dort besuchen sie das Weltkulturerbe »Würzburger Residenz«, dessen 300-jähriges Jubiläum am 22. Mai kommenden Jahres gefeiert wird.

Beim Besuch der Israelitischen Kultusgemeinde Würzburg werden die Teilnehmer von Josef Schuster, dem Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland, willkommen geheißen, und es entwickelt sich ein ausführliches Gespräch zwischen den Hallenser Gemeindemitgliedern mit dem Zentralratspräsidenten.

Eine heitere Note bringt der Abend: Die Theatergruppe »KozaNostra« präsentiert das Theaterstück Zwei Pudel von Semjon Zlotnikov. Bei der festlichen Abschlussfeier mit Elik Roitstein und Iryna Mukha können die Teilnehmer schließlich ein weiteres Mal ihr musisches Talent präsentieren: Gedichte, Tänze und Gesang. Dabei verlassen die Hallenser die Rolle der »Betroffenen«, indem sie selbst aktiv werden, wissen die Veranstalter. Und das ist ein guter Schlusspunkt des Bildungsurlaubs in Bad Kissingen.

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