Man erzählt von einem Juden, der mit dem Zug zum Hafen fuhr, um mit dem Schiff nach Israel zu reisen. Dies geschah am Ende des Zweiten Weltkriegs, nach der furchtbaren Schoa, in der etwa sechs Millionen unseres Volkes – Männer, Frauen und Kinder ermordet wurden. Der Jude saß im Zug und schwieg. Neben ihm saß ein anderer Jude, der versuchte, mit ihm ein Gespräch zu beginnen. Er aber schwieg. Deprimiert und verschlossen dachte er an seine Frau und seine Kinder, die ermordet worden waren, an seine Geschwister und den größten Teil seiner Familie. Stundenlang saß er da und schwieg.
empfinden Gegen Abend stand er plötzlich auf, holte seinen Koffer von der Ablage, holte Tallit und Tefillin heraus, legte sich den Tallit um, legte die Tefillin an und betete. Nachdem er das Gebet beendet und den Tallit und die Tefillin gefaltet und in den Koffer zurückgelegt hatte, wandte er sich an seinen Nachbarn und sagte: »Eigentlich hat er es nicht verdient« und deutete zum Himmel. »G’tt hat es nicht verdient, dass ich Tefillin lege und bete, nach allem, was in der Schoa geschehen ist. Aber ich sehe, mit wem er nach der Schoa auf der Welt geblieben ist. Ich habe Mitleid mit ihm und deswegen lege ich Tefillin.« Nach der Schoa hat der Glaube sehr gelitten. Viele unseres Volkes haben deswegen aufgehört, die Mizwot einzuhalten.
Rosch Haschana, der Anfang des jüdischen Jahres, ist die Zeit, in der der Glaube stärker wird, in der der Mensch offener ist zum Hören und zum Schauen. Kein Wunder, dass das Bekenntnis des Judentums mit dem Wort »Höre« beginnt: »Höre Israel, der Ewige unser G’tt ist der eine G’tt«. Der moderne Mensch ist mit seinen Angelegenheiten beschäftigt und umgeben von all den Angelegenheiten der Welt. Er ertrinkt im Lärm. Es fehlt ihm der Moment der Ruhe, in dem er über Sinn und Inhalt des Lebens nachdenken kann.
Ruhe An Rosch Haschana ist diese Zeit, insbesondere während des Blasens des Schofar. Ein Augenblick der Ruhe, alle schweigen und hören zu. Der Segensspruch vor dem Blasen des Schofar ist: »die Stimme des Schofar zu hören«, das heißt, man sagt den Segensspruch nicht über das »Blasen« des Schofar, sondern über das »Hören«. Schweigen, zuhören und nachdenken. Das Überlegenheitsgefühl des Menschen über die Natur ist verletzt und gebrochen. Der Mensch steht hilflos den Naturgewalten gegenüber: Überschwemmungen, Brände und Stürme. Dies alles kommt, um unseren Stolz zu mindern. Wir sind nicht G’tt. Sobald wir uns im richtigen Verhältnis sehen, können wir die Augen öffnen und die Wahrheit sehen.
Wenn wir die heutige Situation des Judentums betrachten – nach allem, was uns in den letzten Jahrzehnten widerfahren ist, nachdem es ausgesehen hatte, als ob das Judentum zerschmettert werden würde – der Jude sitzt im Zug und legt Tefillin. Das ist die jüdische Existenzkraft. Wir sind heute Zeugen für ein wundersames Erwachen. Die Schoa-Überlebenden haben Kräfte gesammelt und einen wunderbaren Staat gegründet. Mit Aufregung und Staunen haben sie den Staat Israel gegründet. Das Volk Israel kehrte in sein Land zurück aus allen Ländern der Welt. Die Juden aus den ehemaligen GU-Staaten bleiben ihrem Glauben treu, sogar nach Jahrzehnten antireligiöser Propaganda. Der »jüdische Punkt«, der sich in jedem Juden befindet, ist nicht erloschen. Sowohl im Staat Israel als auch hier in Deutschland erneuern sie die Verbindung mit ihrem Judentum, mit den jüdischen Gemeinden, und sie geben ihren Kindern eine jüdische Erziehung.
Zeugnis Ist dies kein Zeugnis für die Existenz G’ttes auf der Welt, der das alte Volk lenkt, der die Entwicklung der Geschichte wendete und formte? Auch das Christentum und der Islam basieren auf dem jüdischen Glauben an G’tt. Das Judentum hat der Welt den Glauben an den Schöpfer der Welt vermittelt. Rosch Haschana, das Haupt des Jahres, das die Erschaffung der Welt symbolisiert, ist der Tag, an dem wir unseren Glauben und unser Vertrauen in den Schöpfer ausdrücken. Mit dem Schofar verkünden wir: Es lebe der König. Das ist einer der Gründe für das Blasen des Schofars. Sofort nach dem Blasen des Schofars sagen wir: »Heute wurde die Welt geboren, heute wurde die Welt erschaffen. Heute wird jedes Geschöpf, jeder Mensch vor Gericht stehen, und es wird entschieden, wie das Jahr für ihn wird.«
Daher wünschen wir, das kommende Jahr möge ein gutes und glückliches werden, Gesundheit, Naches und Freude allen jüdischen Gemeinden in Deutschland, im Besonderen und im Allgemeinen. Auch allen, die in diesem Land leben, möge dieses ein gutes und erfolgreiches Jahr werden. Ein besonderer Segen dem Staat Israel, möge der Terror enden und der Frieden einziehen, so wie in der Tora geschrieben steht: »und ihr werdet in Sicherheit in eurem Land wohnen und ich werde Frieden im Land geben« (Wajikra 26:5,6).
Rabbiner Yitshak Ehrenberg im Namen der Orthodoxen Rabbinerkonferenz Deutschland