Eine Geschichte ohne Pointe, ohne richtiges Ende, ohne Fazit – mitreißend klingt das nicht. Im Jüdischen Museum Westfalen setzt man allerdings genau darauf. Die Dorstener Einrichtung hat Anfang dieses Monats eine Ausstellung eröffnet, die nicht erinnern und resümieren möchte, sondern zu weiterer Forschung, weiteren Fragen anregen soll. In der Schau »Menschen – Steine – Migrationen« werden Gegenwart und Vergangenheit jüdischen Lebens im Rheinland und in Westfalen seit 1900 abgebildet. Die Pointe wird die Zukunft schreiben.
»Vor 25 Jahren hätte man die Ausstellung mit den Worten ›Sie waren unsere Nachbarn‹ eröffnet«, sagt Norbert Reichling leicht amüsiert. Doch seien Juden eben »kein geeigneter Gegenstand für Nachrufe und Gedenktage«, betont der Museumsleiter. Und die Vielfalt jüdischen Lebens sei der Grund, warum man es wieder darstellen könne und wolle.
Thomas Ridder, wissenschaftlicher Mitarbeiter des Hauses, erstellte für die Ausstellung 24 Tafeln, die über verschiedene Facetten der jüdischen Kultur und Geschichte informieren. Dazu gehören auch die »Spuren im Alltag«, die von der Schoa künden – oder eben auch nicht. Steinerne Zeugen der Vergangenheit, die in den 50er-, 60er- und 70er-Jahren aufgestellt wurden, seien oft mit Inschriften »von erschreckender Banalität« versehen, erklärt Ridder. »Hier stand von 1817 bis 1936 die Synagoge«, zitiert er den Satz auf einer Gedenktafel.
Warum sie nicht mehr steht, wer dafür verantwortlich ist, das wird darauf nicht erläutert. Steine haben auch aus einem anderen Grund den Weg in den Titel der Ausstellung gefunden: Heute sind Synagogenneubauten Wegemarken, die sich architek- tonisch nicht mehr zurückhalten, sondern »signifikante Zeichen eines neuen Judentums« seien. »Die Synagogen sind in die Mitte zurückgekehrt: mitten in die Stadt und mitten in das Leben«, sagt Thomas Ridder.
vergangener optimismus Die Migrationswelle nach dem Zerfall der Sowjetunion, die die Neubauten erst nötig und möglich gemacht hat, ist eine der drei Zuwanderungsphasen, die in der Ausstellung erläutert werden. Mit wenigen Schritten kommt der Besucher in der oberen Etage von 1900 bis zur Rückkehr der Juden nach dem Zweiten Weltkrieg in die neugegründeten Gemeinden.
Wer das Bild von Schiffspassagieren auf dem Weg nach Palästina im Jahr 1934 anschaut, hört im Hintergrund noch eine Rede vom Direktor des Centralvereins, Ludwig Holländer, der sich vor der Reichstagswahl im September 1930 optimistisch gibt. Daneben geht es weiter mit jüdischer Kultur und den Sportvereinen vor und nach dem Zweiten Weltkrieg. Der Betrachter wird von einem Thema ins nächste gerissen, wodurch die Ausstellung eine Dynamik bekommt, die sie trotz der Textlastigkeit nicht langatmig werden lässt.
»Diese Ausstellung richtet sich nicht an die klassische Klientel«, erklärt Thomas Ridder. »Wir werden sie nicht nur anderen Museen anbieten, wir wollen ganz gezielt Schulen ansprechen und ermöglichen es auch, dass Klassen die Ausstellung erweitern.« Zwei leere Tafeln, auf denen Schüler eigene Rechercheergebnisse zeigen können, stehen dafür schon bereit. Ein Aufsteller in der oberen Etage ist der Zukunft des Judentums in Deutschland gewidmet. »Dabei hatten wir zunächst etwas Bauchschmerzen«, gesteht Ridder. »Können wir es uns selbst zutrauen, über die Zukunft der jüdischen Gemeinden zu spekulieren?«
Darauf wollte sich der Ausstellungsmacher nicht einlassen. So kommen Persönlichkeiten wie die Autorin Lena Gorelik oder Dieter Graumann, Vizepräsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, und Zentral- ratsgeneralsekretär Stephan J. Kramer zu Wort. Und, wie Reichling hofft, nach dem Gang durch die Ausstellung auch der Besucher selbst. »Offenes und forschendes Lernen« solle Neugier erzeugen.
unsichere zukunft Bis zu 10.000 Besucher zählt das Jüdische Museum Westfalen im Jahr. Im Neubau ist die Dauerausstellung über die jüdische Geschichte und Religion in Westfalen untergebracht. Das Haus hat drei Angestellte auf Basis einer geringfügigen Beschäftigung, einen wissenschaftlichen Mitarbeiter, 30 Menschen engagieren sich freiwillig, auch in Vollzeit. »Das ist auf Dauer etwas wackelig«, räumt Reichling ein. Ohne eine zusätzliche Förderung durch die öffentliche Hand müsse man die Aktivitäten im Museum bald einschränken. Wieder eine Zukunft, die man in Dorsten nur mit Bauchschmerzen einschätzt.