Im hellen Gemeinderaum herrscht aufgeregtes Treiben. Stühle werden gerückt, Tallitot durchgereicht, Kinder hochgehoben, geküsst, und dazwischen stehen Menschen in einer Reihe an. Sie dürfen die neue Tora »vollenden«. Eine Liste kursiert mit 41 namentlich Genannten, »Mitgliedern und Freunden« der Münchner Liberalen Gemeinde Beth Shalom, die dazu beigetragen haben, dass an diesem Septembersonntag in der Gemeinde eine neue Torarolle eingebracht werden kann. Ganz nahe dürfen sie dabei sein, ihre Hand auf den mit einem Tallit bedeckten Arm des Schreibers legen, der mit seinem Federkiel die letzten 41 Buchstaben nachzieht.
Ein knappes Jahr hat Bernard Benarroch, ein Sofer aus London, an der Rolle geschrieben, war endlich mit ihr in München gelandet, nachdem bei einem ersten Versuch im Mai alles kurzfristig hatte verschoben werden müssen. Ein IT-Fehler bei British Airways hatte dazu geführt, dass sein Flug storniert worden war.
Mem für Mosche Jetzt also kratzt die leicht tintenfeuchte Feder über die Rolle aus Schafshaut. Er sei tatsächlich aufgeregt gewesen, da vorne neben dem Schreiber, stellt ein junger Mann erstaunt fest. Ein »Mem von Mosche« habe er bekommen, »sieht gut aus«. Andere fragt Benarroch nach den Anfangsbuchstaben der verstorbenen Eltern, schlägt vor, »ihren« Buchstaben jemandem zu widmen. »86 Jahre alt musste ich werden, um so etwas zu erleben«, zeigt sich ein Herr gerührt. Auch Charlotte Knobloch, Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern, gehört zu den Aufgerufenen. Als Letzter legt schließlich Tom Kucera, Rabbiner der Gemeinde, Hand an. Anlässlich seines zehnten Dienstjubiläums war die neue Torarolle in Auftrag gegeben worden. Für ihn ist das letzte Wort der Schrift reserviert: »Jisrael«.
Auf den Sofer aus London sei man über Kontakte seiner Tochter gekommen, erklärt Jan Mühlstein, Vorsitzender von Beth Shalom. Sie ist dort als Rabbinerin tätig. »Außerdem wussten wir, dass Bernard Benarroch schon öfters etwas für liberale Gemeinden gemacht hat.«
Rund 150 Gäste feiern die Einbringung, es sind Gemeindemitglieder, Freunde und Unterstützer. Unter dem Festpublikum befinden sich auch Deborah Tal-Rüttger, stellvertretende Vorsitzende der Union progressiver Juden in Deutschland, Karin Offman, Geschäftsführerin des Landesverbands der Israelitischen Kultusgemeinden in Bayern, die neue Generalkonsulin des Staates Israels, Sandra Simovich, Rabbiner Steven Langnas, Vertreter aus Politik, christlichen Kirchen und anderen Glaubensgemeinschaften.
Toramantel Rabbiner Tom Kucera ruft die Jüngsten zu sich. Sie dürfen mit ihm gemeinsam den neuen samtigen Toramantel über die Rolle ziehen. Draußen scheint gerade noch die Sonne, also gehen Gemeindemitglieder und Gäste hinunter in den Hof. Gemeinsam bieten sie zwischen den Zweckbauten rechts und links in einem Münchner Gewerbeviertel ein heiteres und ungewöhnliches Bild. Die Chuppa über den Kindern, Jugendlichen und der neuen Torarolle nimmt den Rhythmus der singenden Feiergesellschaft auf. »Le-Dor va-Dor«, von Generation zu Generation solle die Tora weitergetragen werden, sagt Rabbiner Kucera. Besonders beeindrucke ihn, dass Menschen auch außerhalb der Gemeinde dazu beitrugen, dass man heute feiern kann.
»Diese gemeindeübergreifende Bedeutung kann nicht mehr gesteigert werden«, stellt Kucera fest. An Charlotte Knobloch gewandt, bedankt er sich noch einmal ausdrücklich bei der IKG München und Oberbayern »für das Geschenk des neuen Toramantels«.
Vor dem gemeinsam gesprochenen Kaddisch erinnert Kucera an den vor vier Monaten verstorbenen Marcus Schroll sel. A., Religionslehrer und Mitgründer des Jüdischen Gymnasiums in München, der den Gemeindemitgliedern und vielen der Gäste noch ganz nahe ist. Schroll habe ihm nur wenige Tage vor seinem Tod zur bevorstehenden Toraeinbringung per SMS gratuliert und geschrieben: »Jede Tora, die hierzulande eingeweiht wird, zeigt uns die Kraft, die wir aus ihr schöpfen können.«
Natürlich gilt Kuceras besonderer Dank Jan Mühlstein, der diesen Tag erst ermöglicht habe. Als dieser ihm vor einem Jahr das Vorhaben ankündigte, habe es ihm erst einmal die Sprache verschlagen, erinnert sich Kucera. Das Projekt kostete 30.000 Euro. Es ist Wirklichkeit geworden. Für Kucera ist die neue Tora ein Zeichen der Stärke seiner Gemeinde.