Flucht und Engagement. Jüdische und muslimische Perspektiven lautet der Titel der ersten Publikation, die die »Denkfabrik Schalom Aleikum« in der vergangenen Woche im Quadriga Forum in Berlin vorstellte.
Die Denkfabrik, initiiert im September durch den Zentralrat der Juden, verfolgt das Ziel, interreligiösen Austausch in Wissenschaft und Praxis zu erforschen. »Der muslimisch-jüdische Dialog ist in der Öffentlichkeit und in seinen Auswirkungen wenig bekannt«, führte Christian Staffa, Beauftragter der Evangelischen Kirche in Deutschland und Moderator des Abends, aus. Gerade in der Arbeit mit Geflüchteten sei der muslimisch-jüdische Diskurs sehr unterrepräsentiert. Und das, obwohl sich die beiden Glaubensgemeinschaften überdurchschnittlich stark in der Geflüchtetenhilfe engagieren.
erfahrungen Um dieses Engagement sichtbarer zu machen, tauschten sich Vertreterinnen und Vertreter verschiedener Hilfsorganisationen im Rahmen der Buchvorstellung über ihre Erfahrungen und Motivationen aus. In der an diesem Abend vorgestellten Publikation werden auf Basis dieser Erfahrungen Probleme identifiziert und Verbesserungsimpulse an politische und zivilgesellschaftliche Entscheidungsträger formuliert. So konnten die Diskussionsteilnehmenden einige gemeinsame Nenner in ihrem Engagement identifizieren.
Besonders ausschlaggebend seien eigene sowie familiäre Flucht- und Migrationserfahrungen. Etwa 80 Prozent der in Deutschland lebenden Jüdinnen und Juden sind seit 1990 aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion zugewandert. Dies trifft auch auf die Sozialarbeiterin und Gründerin des Servicebüros Filimonova – Fallorientierte interkulturelle Lebens- & Integrationsberatung zu. 1991 beantragte Julija Filimonova in Deutschland Asyl und wurde als sogenannter jüdischer Kontingentflüchtling anerkannt.
Auf der Basis eigener Erfahrungen werden Probleme identifiziert und Empfehlungen formuliert.
Da der Neuanfang für sie sehr schwer gewesen sei, möchte sie es Geflüchteten durch ihre Arbeit erleichtern, in Deutschland Fuß zu fassen. Auch die Wohlfahrtsstelle Malikitische Gemeinde möchte den Erfahrungsschatz ihrer Freiwilligen gewinnbringend in der Geflüchtetenhilfe einsetzen. Geschäftsführer Rachid Amjahad führte im Interview für die nun vorliegende Publikation aus, dass Geflüchtete aus arabischen Ländern hierdurch zielgerichtet und passgenau in verschiedenen Lebensbereichen wie Erziehung, Bildung und Beruf unterstützt werden könnten.
engagement Meltem Kulacatan von der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg betonte, dass das enorme Engagement von Musliminnen und Muslimen in der Geflüchtetenhilfe auch religiös begründet ist. Zum einen durch die sogenannte Gottesgefälligkeit, nach der am Lebensende die guten Taten überwiegen mögen. Zum anderen findet sich das Engagement für Geflüchtete bereits in der islamischen Frühgeschichte wieder, in der sich der Prophet Mohammed für die Integration von Geflohenen aus Mekka in Medina aussprach.
Ein Grundsatz, der sich sowohl in der islamischen Sozialethik »Zakat« als auch im jüdischen Konzept der »Zedaka« wiederfindet, ist die Bescheidenheit. Demnach sollten Helfende sich nicht öffentlich mit ihrem Engagement schmücken und bedürftige Personen dadurch degradieren. Je anonymer die Wohltätigkeit, desto besser.
Auch bei den Problemen und Herausforderungen in der Geflüchtetenarbeit waren sich die Vertreterinnen und Vertreter der Hilfsorganisationen einig. So stelle insbesondere der bürokratische Aufwand eine enorme Belastung der Kapazitäten dar. Die Navigation durch die Verwaltungsabläufe sei für die Geflüchteten ohne fachkundige Hilfspersonen kaum zu bewältigen. Dies habe wiederum zur Konsequenz, dass die Helferinnen und Helfer weit über reguläre Arbeitszeiten hinaus beansprucht werden – auch nachts und an Wochenenden.
In dem Buch werden Impulse und Handlungsempfehlungen erarbeitet, um die Aufnahme und Integration von Geflüchteten effizienter zu gestalten.
Unter finanziellen Gesichtspunkten sei außerdem kritisch, dass viele Hilfsprojekte nur mittelfristig über einen Zeitraum von wenigen Jahren gefördert würden, was große Unsicherheiten für die Hilfsorganisationen und ihre Mitarbeitenden verursacht. Darüber hinaus gestalte sich die Auseinandersetzung mit Themen wie Frauenrechte, Gewaltvermeidung, Antisemitismus und religiöser Radikalisierung nicht immer einfach.
Sami Alkomi gab als Mitgründer des Vereins »Demokratielotsen. Gesellschaft für Wertedialog und interkulturelle Bildung« Einblicke in seine Integrationsarbeit. Er führte aus, dass Probleme insbesondere im Umgang mit Geflüchteten auftreten, die einen konservativen oder islamischen Hintergrund aufweisen. Hier brauche es viel Geduld und kontinuierliche Bildungsarbeit, um Meinungen und Ansichten nachhaltig zu verändern.
integration Auf Basis des Erfahrungsschatzes hat das Team von Schalom Aleikum in seiner ersten Publikation Impulse und Handlungsempfehlungen erarbeitet, um die Aufnahme und Integration von Geflüchteten effizienter zu gestalten. Auf der behördlichen Ebene sei demnach ein übersichtlicherer Verwaltungsablauf und in diesem Zusammenhang eine Verdichtung der Beratungsnetzwerke wünschenswert. Denn oftmals würden sich im Laufe des bürokratischen Integrationsprozesses Fragen und Probleme ergeben, die eine entsprechende »Anschlussberatung« erfordern.
Für die Hilfsorganisationen selbst sei eine umfangreichere und stetige Förderung unerlässlich, um eine zuverlässige und bedarfsgerechte Unterstützung der Geflüchteten zu gewährleisten. Darüber hinaus seien jedoch auch Veränderungen auf der gesellschaftlichen Ebene notwendig, da sich Deutschland zwar als Einwanderungsland, jedoch nicht notwendigerweise als Einwanderungsgesellschaft definiere. Die hiermit einhergehende soziale Wertschätzung habe Auswirkung auf die Selbstwertschätzung der Geflüchteten, die als Personen mit Wünschen und Ambitionen gesehen werden müssten.
»Teilhabe und Empowerment sind Schlüsselbegriffe im gesamtgesellschaftlichen Prozess der Integration«, betonte Abraham Lehrer, Präsident der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden (ZWST), bei der Buchvorstellung in Berlin. Das jüdisch-muslimische Engagement sei zentraler Bestandteil dieses Prozesses. Gleichzeitig dürften Herausforderungen wie etwa der Antisemitismus bei einigen muslimischen Geflüchteten nicht ignoriert werden.
In einer früheren Version dieses Textes hatten wir die Passage unter dem Zwischentitel »Engagement« irrtümlicherweise falsch zugeordnet. Die Wortmeldung stammt von Meltem Kulacatan. Wir bitten, den Fehler zu entschuldigen.