Sein Tag beginnt wie immer: Kurz vor sieben Uhr klingelt der Wecker. Yisrael Bistritzky und seine Mitbewohner im Appartement nahe der Münsterschen Straße sprechen ihre ersten Gebete, legen Tefillin, frühstücken, gehen in die Mikwe, zum Morgengottesdienst in die Synagoge, anschließend zum Lernen in die Yeshiva Gedola.
Bistritzky studiert Halachot, es geht um ganz spezielle Speisegesetze. Aber so richtig konzentrieren kann er sich nicht, denn die Aufregung steigt kurz vor der Ordination. »Das passiert schließlich nur einmal im Leben, darauf haben wir lange gewartet«, sagt der 21-Jährige und lächelt etwas verlegen. Von der Yeshiva im Jüdischen Bildungszentrum sind es nur ein paar Treppen hinunter zur Synagoge, in der an diesem Sonntagmittag rund 250 Gäste auf den Beginn der Ordinationsfeier warten.
Yisrael Bistritzky und seine fünf Studienkollegen – Meir Eidelman, Yakov Eigerman, Chaim Rivkin, Chaim Waisman und Yechiel Waitsman – nehmen sonst auf den hinteren Synagogenbänken Platz, heute sitzen sie ganz vorn. Alle Blicke sind auf sie gerichtet, als sie Israels Oberrabbiner Yona Metzger, der eigens für dieses Ereignis nach Berlin gekommen ist, nach oben bittet, vor den Aron Hakodesch. Er überreicht ihnen die Smicha, das Rabbinerdiplom. Kurze Gratulation, Glückwünsche auch von Yochanan Gurary, dem Oberrabbiner von Holon, dann ein Lächeln für die Fotografen.
Entwicklung Yona Metzger betont, dass mit dieser Ordination »ein Stück von dem Glanz, den das orthodoxe Rabbinertum in Deutschland einst vor der Schoa ausstrahlte«, wieder zurückehre. Er lobte die »Ernsthaftigkeit und das hohe akademische Niveau des Studiums«. Es sei eine bemerkenswerte Entwicklung, die das Rabbinerseminar auszeichne, das er 2004 zum ersten Mal besucht habe. Er dankt den dafür in Berlin verantwortlichen Rabbinern Yehuda Teichtal und Uri Gamson.
Viele Jahre habe er erhebliche Vorbehalte gegen den Wiederaufbau jüdischen Lebens in Deutschland gehabt, gestand Metzger. Doch inzwischen habe er seine Meinung grundlegend geändert. »Wir müssen die veränderte Einstellung der deutschen Nation gegenüber dem jüdischen Volk anerkennen.« Metzger dankte der Bundesregierug für den Kampf gegen Antisemitismus und für die Förderung jüdischen Lebens.
»Wir müssen der Regierung Deutschland auch dafür danken, dass sie für unsere Brüder und Schwestern die Tore öffnete, die aus der ehemaligen Sowjetunion hierher kamen.« Diese hätten sich inzwischen in den Gemeinden gut eingelebt, bräuchten jedoch mehr geistige Führung. Diese werde in Berlin ausgebildet, am Rabbinerseminar, welches allerdings noch keine finanzielle öffentliche Unterstützung erhalte, merkt Metzger an.
Absolvent Einer der ersten Absolventen dieses Seminars ist Yisrael Bistritzkys Bruder, Shlomo. Er ist Rabbiner in Hamburg. Bei der Feier erzählt er von seiner Familie, von seinem Großvater Yehuda Leib Bistritzky, der 1926 in Hamburg geboren wurde, und dem es als Elfjährigem noch gelang, die Heimat vor den Nazis zu verlassen. Der lebte dann viele Jahre in den Vereinigten Staaten, jetzt mittlerweile in Israel. Dort war dann sein Sohn Levi, der 2002 verstarb, Oberrabbiner von Sefad. In einem Telefonat mit der Jüdischen Allgemeinen sagt der Großvater: »Dass der
jüngste Sohn meines Sohnes heute ebenfalls Rabbiner wird, erfüllt mich mit viel Stolz. Wir sind alle tief berührt.«
Shlomo Bistritzky betont bei der Feier, dass sich nun ein Kreis geschlosssen habe. Seinem Bruder und den fünf anderen ruft er zu: »Deutschland braucht junge engagierte Rabbiner. Ihr bekommt heute die Papiere und könnt morgen schon mit der Arbeit beginnen.«
Yona Metzger hat bereits zuvor in seiner Rede die Berliner Gemeinde aufgefordert, ihnen Jobs anzubieten. Und er hat den gerade ernannten Rabbinern gleich noch ein paar praktische Tipps mit auf den Weg gegeben: Sie sollten stets für Frieden sorgen, mit den Gemeindemitgliedern immer ehrlich sein und ihnen helfen, Gott und ihre Mitmenschen zu achten. »Und vor allem: Wenn ihr Reden haltet, fasst euch kurz. Es ist immer besser, wenn die Gemeinde sagt ›Rabbi, wir wollen mehr‹ als wenn es heißt ›Rabbi, es ist genug‹.«
Yisrael Bistritzky wird es sich zu Herzen nehmen. Er ist sowieso kein Mann vieler Worte. So scheint er dann auch einigermaßen erleichtert zu sein, als alle Fotos gemacht sind, die Journalisten ihre neugierigen Fragen gestellt haben, und alle Hände geschüttelt sind. Nach der Feier steht er mit seinem Bruder Shlomo recht still in einer Ecke im Foyer, seiner Mutter Esther, die eigens aus Sefad/Israel angereist ist, zeigt er stolz seine Smicha.
Zukunft Yisrael will später noch ein wenig Zeit mit der Familie verbringen. Auf die Frage, ob er mit seinen Studienkollegen noch etwas feiern wird, antwortet er etwas verwundert: »Nein, aber wir werden noch etwas lernen.«
Und wie geht es weiter? Noch für eine gewisse Zeit setzen die sechs ihre Studien in Berlin fort, dann trennen sich ihre Wege. Wohin sie letztendlich gehen werden, steht für die meisten noch nicht fest. Yisrael Bistritzky hat da schon konkretere Pläne: Er bleibt in Berlin, will als Rabbiner am Aufbau eines Zentrums für jüdische Studenten mitwirken. Berlin sei eine wundervolle Stadt, sagt er, das jüdische Leben werde immer vielfältiger, viele Israelis kämen hierher, es sei viel zu tun. »Wir haben das Gefühl, dass wir helfen können und hier gebraucht werden.«