Herr Botmann, der Zentralrat startet jetzt zu Rosch Haschana die Online-Umfrage »Gemeindebarometer«. Welche Erkenntnisse wollen Sie daraus gewinnen?
Es tut sich viel innerhalb der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland. 30 Jahre nach der großen Zuwanderung aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion stehen wir an einer interessanten Wegmarke. Die jüdische Gemeinschaft in Deutschland ist gewachsen. Zwischenzeitlich leben auch viele Israelis und Juden aus anderen Ländern in Deutschland. Auch die jüdischen Gemeinden haben sich in den vergangenen Jahrzehnten kontinuierlich verändert. Darüber möchten wir durch die Umfrage gerne mehr in Erfahrung bringen.
Die Umfrage richtet sich an alle, die über 18 und jüdisch sind. Wie wird für die Teilnahme geworben, gehen Sie auch aktiv auf die Zielgruppe zu?
Wir setzen stark auf die sozialen Medien wie Facebook, Twitter und Instagram. Unsere Kampagne steht unter dem Motto »Sie sind gefragt!«. Mit Ansprachen und Videoclips möchten wir potenzielle Teilnehmer direkt erreichen. Erfreulich ist auch, dass die jüdischen Gemeinden und viele jüdische Organisationen die Online-Umfrage unterstützen und die Informationen über ihre Verteiler versenden. Jeder ist eingeladen, die Fragen zu beantworten und in seinem Freundes-, Bekannten- und Verwandtenkreis für das Gemeindebarometer zu werben. Je mehr Personen daran teilnehmen, desto erkenntnisreicher werden die Ergebnisse.
Gemeindemitglieder sollen befragt werden, aber auch die, die noch nie oder nicht mehr Mitglied einer Gemeinde waren oder sind. Werden allen die gleichen Fragen gestellt?
Viele Fragen sind identisch, zum Beispiel die zur jüdischen Identität, zur Wahrnehmung von Angeboten der Gemeinden und anderer jüdischer Einrichtungen, aber auch zu Teilhabe und Partizipationsmöglichkeiten in der Gemeinde. Andere Fragen werden zielgruppenspezifisch ausgespielt. Bei Personen, die nicht Mitglied einer jüdischen Gemeinde sind, wollen wir verstehen, weshalb man sich gegen oder bisher nicht für eine Mitgliedschaft entschieden hat. Spannend ist auch die Frage, wie wir es schaffen, die Gemeindemitgliedschaft attraktiv zu gestalten.
Unter welchen Gesichtspunkten wurde der Fragenkatalog erarbeitet?
Wir möchten herausfinden, was Jüdinnen und Juden ihr Judentum bedeutet. Was bedeutet uns die jüdische Gemeinschaft in Deutschland? Wie stehen wir zu unseren jüdischen Einrichtungen? Fühlt sich jeder ausreichend repräsentiert? Was bedeutet uns die Solidargemeinschaft? Wir möchten auch ein tieferes Verständnis davon bekommen, was von den Gemeinden erwartet wird. Welche Bedürfnisse werden bereits befriedigt, und wo liegen möglicherweise noch verborgene Potenziale? Die jüdischen Gemeinden sind das Rückgrat unserer Community, auch für Juden, die nicht Mitglied sind. Denken Sie allein an die Infrastruktur, die die Gemeinden vorhalten. Dennoch gehen die Mitgliederzahlen zurück. Das liegt an der Altersstruktur. Wir haben mehr Sterbefälle als Geburten. Es hat aber vielleicht noch andere Gründe. Das möchten wir gerne herausfinden.
Wie und in welchen Sprachen kann man sich beteiligen?
Es handelt sich um eine Online-Befragung. Vollständig anonym. Jede Jüdin und jeder Jude in Deutschland über 18 Jahre kann mitmachen. Damit es keine Sprachbarrieren gibt, bieten wir die Umfrage in vier Sprachen an: Deutsch, Russisch, Englisch und Hebräisch. Einfach auf die Seite
www.gemeindebarometer.de gehen. Die Umfrage führen wir gemeinsam mit infas durch. Die Beantwortung des Fragebogens dauert rund 15 Minuten.
Warum sollte man sich beteiligen?
Das Gemeindebarometer ist für uns als jüdische Gemeinschaft eine große Chance. Wir erhoffen uns davon grundlegende Erkenntnisse, die wir im Folgenden zu analysieren haben. Die Analyse bietet uns eine gute Basis für die weitere Entwicklung innovativer Konzepte. Wir werden besser verstehen, welche noch offenen Bedürfnisse bestehen. Vor allem wird aber die Diskussion darüber spannend sein, welche Maßnahmen für die Zukunft die richtigen sind. Es gibt immer etwas zu verbessern, und ich gehe davon aus, dass wir mit dem Gemeindebarometer auf allen Ebenen die bisherige erfolgreiche Arbeit in den Gemeinden, aber auch bei den Dachverbänden weiterentwickeln können.
Bis wann läuft die Umfrage?
Wir haben jetzt vor Rosch Haschana mit der Umfrage begonnen. Sie wird voraussichtlich drei Monate laufen.
Wie wird sie ausgewertet?
Die wissenschaftliche Bewertung erfolgt durch Experten des Meinungsforschungsinstituts infas, des Joint Distribution Committee und des Zentralrats. In den Gremien der jüdischen Gemeinschaft werden diese Bewertungen zu diskutieren sein. Geplant ist auch, die Ergebnisse zu veröffentlichen.
Stichwort Datenschutz: Es wird nach Personenstand, Staatsbürgerschaft und wirtschaftlicher Lage gefragt: Wie gehen Sie mit den sensiblen Daten um?
Wir haben uns aus verschiedenen Gründen für eine anonyme Umfrage entschieden. An keiner Stelle werden die Teilnehmer nach ihrem Namen, ihrer Gemeinde oder nach ihrer Postleitzahl gefragt. Rückschlüsse auf einzelne Personen sind daher von vornherein ausgeschlossen. Die Fragen zur Statistik dienen lediglich als Indikatoren, um die Antworten auswerten zu können. Auch darüber hinausgehende Auflagen des Datenschutzes werden eingehalten. Das ist für ein renommiertes Institut wie infas Standard.
Wie repräsentativ werden die Erkenntnisse sein, die Sie gewinnen können?
Das hängt natürlich auch von der Zahl der Teilnehmer ab. Deshalb appellieren wir an alle Juden in Deutschland, daran teilzunehmen. Die Umfrage ist so angelegt, dass sie zu repräsentativen Ergebnissen führen kann.
Können Sie ein konkretes Beispiel nennen, wie eine aus der Umfrage gewonnene Erkenntnis dann möglicherweise umgesetzt wird?
Es kommt auf die Ergebnisse an. Wir sollten nicht mit vorgefertigten Rezepten arbeiten.
Wie werden und sind die Gemeinden beteiligt?
Die jüdischen Gemeinden und ihre Mitglieder sollen hauptsächlich von dem Gemeindebarometer profitieren. Daher sind die Gemeinden für uns wichtige Partner in diesem Prozess. Wir setzen auf sie als Multiplikatoren. Auch an dem auf die Umfrage folgenden Diskussionsprozess werden die Gemeinden intensiv beteiligt. Nur gemeinschaftlich werden wir es schaffen, die jüdischen Gemeinden zu stärken und die jüdische Zukunft zu sichern.
Was meinen Sie: Wird das Gemeindebarometer auf »schlecht«, »veränderlich« oder »schön« stehen?
Vorhersagen über mehrere Monate sind ja bekanntlich recht ungenau. Aber ich tippe auf »veränderlich« – und den Wunsch nach Veränderung finde ich für unsere Gemeinschaft positiv. Denn Veränderung ist das Gegenteil von Stillstand.
Die Fragen an den Geschäftsführer des Zentralrats der Juden stellte Heide Sobotka.
www.zentralratderjuden.de/aktuelle-meldung/artikel/news/gemeindebarometer