München

Wunden, die nicht heilen

Jeder Mensch hat einen Namen», so heißt es in einem berühmten Gedicht der israelischen Lyrikerin Zelda Schneerson Mishkovsky: einen Namen, der untrennbar mit dem Leben seines Trägers verknüpft ist. Um an die Namen der Ermordeten und das Schicksal der verbliebenen israelischen Geiseln zu erinnern, fanden rund um den Jahrestag des Angriffs vom 7. Oktober 2023 in München mehrere Veranstaltungen statt.
So auch im Herzen Münchens, auf dem Marienplatz.

Angehörige und Freunde der jüdischen Gemeinschaft waren hier zusammengekommen, um zu hören, wie jeder einzelne Name der über 1000 Ermordeten verlesen wurde – von der Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern, Charlotte Knobloch, und zahlreichen anderen Münchnern, die sich freiwillig gemeldet hatten. Auch viele Passanten wurden auf die Aktion aufmerksam, blieben stehen und machten Fotos. Kinder erfreuten sich an den symbolischen Schleifen aus Seifenschaum, die von einer speziellen Maschine aus gen Himmel stiegen. Vom Wind getrieben, flogen die Zeichen des Erinnerns am Rathaus vorbei und verschwanden schließlich in der Ferne.

Auch diese Aktion zeigte: Noch immer markiert der 7. Oktober einen historischen Bruch. Die Nachwirkungen des Terrorangriffs sind allgegenwärtig, ein Tag ist zum Dauerzustand geworden. Noch immer sind mehr als 100 Geiseln in Gaza in Gefangenschaft, viele Zehntausende israelische Zivilisten aus Israels Norden konnten außerdem bis heute nicht in ihre Häuser zurückkehren. Israel befindet sich in einem Mehrfrontenkrieg, in diesem Jahr wurde das Land erstmals direkt vom Iran angegriffen.

Noch immer markiert der 7. Oktober einen historischen Bruch.

Weltweit berichten jüdische Gemeinden von drastisch steigenden Fallzahlen antisemitischer Vorfälle und Angriffe, auch München wurde Anfang September Schauplatz eines versuchten Attentats. Die Verbrechen des 7. Oktober verbanden zwei wesentliche Elemente des Antisemitismus: die blanke Gewalt der Täter und die Ignoranz der Nichtbetroffenen. Anfängliche Solidarität mit den Angegriffenen kippte schnell in Kritik an Israel bis hin zur offenen Sympathie mit den Terroristen, und Mitglieder der jüdischen Gemeinschaft trafen allzu oft auf Schweigen oder Zurückweisung. Gegen den wachsenden Antisemitismus gab es, anders als gegen Israel und seine Politik, keine Großdemonstrationen, sondern nur kleinere Zusammenkünfte von Engagierten aus den jüdischen Gemeinden und aus einem überschaubaren solidarischen Umfeld.

Mit der Kundgebung des Bündnisses «München gegen Antisemitismus» auf dem Odeonsplatz am Sonntag vor dem Jahrestag wurden erstmals alle Kräfte der Unterstützung gebündelt. Unter Führung von Guy Katz und Jil Meiteles brachten über 100 beteiligte Organisationen an die 8000 Teilnehmer auf die Straße. Ungestörtes Gedenken war jedoch nicht einmal an diesem Tag möglich: Von einer anti-israelischen Demonstration am nahen Wittelsbacherplatz waren aggressive Sprechchöre gegen den Zug der Menschen zu hören, die mit ihrem Schweigemarsch nichts forderten als die Freilassung der Geiseln.

«Solange die israelischen Geiseln nicht wieder frei sind, können die Wunden des 7. Oktober niemals anfangen zu verheilen», sagte Charlotte Knobloch.

«Angst ist ein Gefühl, das immer mehr Menschen hier spüren», hatte Katz vor den Versammelten erklärt, «und wir sagen laut und deutlich, dass wir diese Angst nicht als Normalität akzeptieren.» IKG-Präsidentin Charlotte Knobloch, zugleich Schirmherrin der Kundgebung, zeigte sich stolz und dankbar, in welchem Ausmaß sich der Odeonsplatz für diese Botschaft gefüllt hatte. «Solange die israelischen Geiseln nicht wieder frei sind, können die Wunden des 7. Oktober niemals anfangen zu verheilen. Nicht in Israel, nicht in München, niemals und nirgends. Für sie und gegen die Indifferenz müssen wir das Wort erheben», betonte sie unter wiederkehrendem Beifall und «Bring Them Home»-Sprechchören.

Der bayerische Ministerpräsident Markus Söder wiederholte erneut sein Schutzversprechen für die jüdischen Gemeinden in Bayern, das er außerdem nicht nur auf physische Unversehrtheit bezog: Es komme auch darauf an, so Söder, «wieder ein inneres Gefühl der Freiheit herstellen zu können. Solange Angriffe auf Juden stattfinden, sind dies Angriffe auf unsere gesamte Freiheit, auf die Freiheit von jedem von uns». Auch Zentralratspräsident Josef Schuster und der israelische Botschafter Ron Prosor waren nach München gekommen und betonten die schwierige Situation sowohl des angegriffenen jüdischen Staates als auch der hiesigen jüdischen Gemeinden.

Auch Zentralratspräsident Josef Schuster und Israels Botschafter Ron Prosor waren gekommen

Die Münchner Kultusgemeinde hatte einen Tag später, am Jahrestag des Angriffs, gemeinsam mit der Landeshauptstadt München zu einem Gedenk­akt in die Hauptsynagoge «Ohel Jakob» geladen. Auf dem Jakobsplatz erinnerten eine monumentale Fotocollage an Namen und Gesichter aller Ermordeten sowie eine Outdoor-Ausstellung an die verbliebenen Geiseln. Beim Gedenkakt waren Ministerpräsident Markus Söder und die dritte Bürgermeisterin der Landeshauptstadt, Verena Dietl, nach ihrer Teilnahme am Tag zuvor auch an diesem Abend wieder unter den Rednern, Dietl fungierte dabei als Vertretung des erkrankten Oberbürgermeisters.

Zusätzlich war mit Ilse Aigner die Präsidentin des Bayerischen Landtags gekommen, die auf drastische Weise die Bedrohung der Bürger in Israel sichtbar machte: Während ihrer Rede hielt sie eine Karte des Landes hoch, auf der jeder Raketenalarm während des iranischen Angriffs in der Woche zuvor markiert war, sodass sich vor lauter Rot kaum noch etwas erkennen ließ. In Deutschland wiederum komme die Bedrohung für jüdische Menschen Aigner zufolge längst von allen Seiten, «von rechts, von links und von radikalen Muslimen. Das Versprechen ›Nie wieder‹ ist gebrochen». Das sei vielleicht die bitterste Erkenntnis ihres politischen Lebens.

Die besondere Gefahrenlage für Israel hoben auch die israelische Generalkonsulin Talya Lador-Fresher und der für eine Videobotschaft aus Israel zugeschaltete Militärsprecher Arye Sharuz Shalicar in eindringlichen Beiträgen hervor. Münchens Erzbischof Reinhard Marx fragte rhetorisch, wie Deutschland bei einem Angriff wie dem des 7. Oktober rea­giert hätte, während der evangelische Landesbischof Christian Kopp die Fürbitte vortrug, die seine Gemeinden in Bayern zum Gedenken an die Terroropfer beteten. Der neue Generalkonsul der USA, James Miller, betonte den Willen seiner Regierung, Israel bei der Befreiung der Geiseln beizustehen und die schreckliche Realität des Krieges nicht auf Dauer fortbestehen zu lassen.

Ludwig Spaenle, Antisemitismusbeauftragter der Staatsregierung, wandte sich schließlich gegen «propalästinensische» Demonstranten, die er als «nützliche Idioten der Hamas» kritisierte.

IKG-Präsidentin und Hausherrin Charlotte Knobloch unterstrich in ihrer eigenen Ansprache die universelle Dimension des Angriffs. Die jüdische Gemeinschaft «war zwar immer das erste Ziel der Gewalt. Aber gemeint waren nicht nur wir». Der 7. Oktober habe jedem der Anwesenden gegolten. «Er war ein Gewaltexzess gegen unsere Art zu leben, zu denken und zu handeln. Gegen unsere Moral, gegen unsere schiere Existenz.» Wie der Tag selbst sei auch der Hass noch nicht überwunden. Die freie Gesellschaft stünde vor Gefahren, «die niemand ignorieren kann, der sein Leben frei von Unterdrückung und Angst leben will».

Das, so Knobloch, sei keine politische Feststellung, «sondern eine Frage der Menschlichkeit». Den eindrucksvollen Abschluss des Abends bildete der Überlebendenbericht von Dafna Gerstner. Die Israelin, die seit 2011 in Deutschland lebt, aber aus dem Kibbuz Be’eri stammt, war bei ihrer Familie zu Besuch, als die Terroristen am 7. Oktober angriffen. In einem aufwühlenden Vortrag berichtete sie davon, wie sie mit ihrem Mann 19 lange Stunden im Schutzraum des Hauses ihres Bruders Eitan ausharrte.

Am 7. Oktober war Israel als weltweiter Schutzraum für jüdische Menschen außer Kraft gesetzt

Eitan und die restlichen Mitglieder der Bereitschaftseinheit von Be’eri hätten den Kibbuz verteidigt, ohne Hilfe der Armee aber auf verlorenem Posten gestanden: «Gegen zwei Uhr nachmittags griffen Terroristen das Gebäude erst mit Granaten an und stürmten es. Mein Bruder und fast alle anderen wurden erschossen.»

Gerstner und ihr Mann konnten erst in der folgenden Nacht gerettet werden, und es dauerte einen weiteren ganzen Tag, ehe Be’eri vollständig zurückerobert war. Gerstners beklemmender Bericht rückte eine weitere Dimension der Attacke ins Bewusstsein der Anwesenden: Am 7. Oktober war Israel als weltweiter Schutzraum für jüdische Menschen außer Kraft gesetzt. Obwohl das Land sich längst wieder erfolgreich verteidigen kann, zählt das einschneidende Gefühl der Hilflosigkeit zu den anhaltenden Folgen dieses Tages.

Charlotte Knobloch beendete den eindrucksvollen Abend deshalb auch in der Hoffnung, dass dieser Einschnitt dereinst überwunden werden könnte. Wie weit der Weg dorthin noch war, machte aber eine sehr persönliche Bemerkung deutlich. Die Gedenkveranstaltung, so Knobloch zum Schluss, sei «eine der schwersten, die jemals in dieser Gemeinde abgehalten wurden». Beim Verlassen der Synagoge entzündeten die Gäste Kerzen, sodass die Synagoge schließlich rundum in ein Lichtermeer getaucht war.

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