Nicht einmal ein Senfkorn», so lehrt Maimonides, werde von den Frommen verachtet. «Es tut ihnen leid um jede Verschwendung und Zerstörung, und wo sie etwas bewahren können, tun sie es mit aller Kraft.» Das klingt hochmodern und aktuell, wie ein Plädoyer für Nachhaltigkeit, jenen Begriff, der derzeit selbst in verschwenderischer Fülle ge- oder besser: missbraucht wird.
Das «Lo taschchit!» – «Du sollst nicht vergeuden!» –, auf das Rambams Ausführung anspielt, ist allerdings schon mehrere Tausend Jahre alt. Es gehört zur Halacha und kann daher vielleicht als früheste Manifestation ökologischen Denkens gelten. Grundlage ist eine Stelle aus dem fünften Buch Mose, Dewarim (20,19), in der es darum geht, dass man während der Belagerung einer Stadt keine fruchttragenden Bäume fällen soll, um die Feinde zu schädigen und zu schwächen.
Diese Passage hat in der Tradition zu vielen Reflexionen über sinnlose Vergeudung und Zerstörung inspiriert. Und was in der Tora über ethisch richtiges Verhalten in einer kriegerischen Auseinandersetzung geschrieben wurde, lässt sich auf alle Situationen des Lebens übertragen.
Mizwa Noch fällt es nicht immer leicht, diese Mizwa im Alltag zu beachten. Denn manchmal steht sie im Konflikt mit den herrschenden Gesetzen, wie zum Beispiel Fiszel Ajnwojner, Schammes und Gabbai in der Frankfurter Westend-Synagoge, erfahren musste. Wohin etwa mit den Speiseresten, die nach einem Kiddusch am Schabbat übrig bleiben?
Ab in die Biotonne damit? Aber wäre das nicht auch ein Verstoß gegen das Verschwendungsverbot? «Es gibt Auflagen vom Gesundheitsamt, die uns die Wiederverwendung von angebrochenen Speisen verbieten», berichtet Ajnwojner. Denn eine Synagoge ist ein quasi öffentlicher Ort mit Publikumsverkehr, und deshalb ist dem Schammes laut Gesetz verboten, was jede kluge Hausfrau täte: die Reste mit Frischhaltefolie abdecken, kühl lagern und demnächst wieder auftischen.
Doch die Gläubigen, die sich an jedem Schabbat zum Gottesdienst in der Westend-Synagoge versammeln, haben einen Ausweg aus dem moralischen Dilemma gefunden, und der heißt Dose oder Plastiktüte. «Die Leute nehmen das, was vom Kiddusch übrig bleibt, einfach mit nach Hause», erzählt Fiszel Ajnwojner. «Vom Kuchen bis zum Hering wird alles eingepackt», hat er beobachtet.
Eine juristisch, moralisch und ökologisch einwandfreie Lösung. Wenn dann immer noch leckere Speisen auf den Tischen zurückbleiben, hat Ajnwojner auch dafür eine sinnvolle Verwendung gefunden: Er serviert sie am selben Tag zur «dritten Mahlzeit», jenem Imbiss, mit dem man traditionell die Zeit zwischen Mincha- und Maariv-Gebet überbrückt. Nur die Chabad-Schüler aus der Frankfurter Jeschiwa greifen bei diesem Essen nicht zu, doch nicht etwa, weil sie dagegen hygienische Bedenken hegten: «Der Lubawitscher Rebbe hat niemals die dritte Mahlzeit angerührt, also tun das seine Schüler auch nicht», erläutert stattdessen der Schammes.
Kiddusch Auch in der Synagoge am Fraenkelufer in Berlin-Kreuzberg ist es üblich, alles, was beim Kiddusch nicht verzehrt wurde, den Gottesdienstbesuchern nach Hause mitzugeben. «Aber», so erzählt Gemeindemitglied Marisa Beck lachend, «bei uns herrscht wohl ein ausgesprochen guter Appetit. Es bleibt, ehrlich gesagt, nie viel übrig.»
Der Grund, warum auch das Frankfurter koschere Restaurant «Sohar’s» täglich viele Speisereste schweren Herzens in den Müll werfen muss, trägt einen komplizierten Namen und stammt aus Nordamerika: HACCP, «Hazard Analysis Critical Control Point» – dieses standardisierte Konzept zur Lebensmittelkontrolle und -hygiene ist mittlerweile auch in der deutschen Gastronomie Pflicht geworden. Und eine Bestimmung darin lautet, dass die Kühlkette möglichst nicht unterbrochen werden darf.
«Sohar’s» beliefert unter anderem den Jüdischen Kindergarten im Gemeindezentrum und richtet oft auch als Caterer die Kidduschim in den Frankfurter Synagogen aus. «Wenn wir den Kindern aus dem Kindergarten ein warmes Gericht servieren, und sie essen dieses nicht ganz auf, dann müssen wir alles, was übrig bleibt, wegwerfen», berichtet Restaurant-Koch Paul.
Denn wieder einzufrieren, was vielleicht eine Stunde oder länger im Warmen herumgestanden hat, ist verboten, zu groß ist die Gefahr, dass sich in den verderblichen Speisen Keime bilden und in Windeseile vermehren. «Nur wenn wir zu viel produziert haben und dann aber lediglich einen Teil davon aus der Kühlung nehmen und verwenden, können wir die Reste weitergeben. Die bekommt dann oft die Frankfurter Tafel von uns geschenkt», erzählt Paul, der Koch.
Präventiv «Essen ist nicht heilig, also weg damit. Wir schmeißen alles, was nach einem Kiddusch in der Synagoge an Speisen zurückbleibt, in den Müll», sagt ganz nüchtern und sachlich Rabbiner Michael Kogan aus Düsseldorf. Noch pragmatischer zeigen sich die Bayern: «Wir haben recht gute Erfahrungswerte und kalkulieren so, dass vom Kiddusch nichts übrig bleibt», erklärt Aaron Buck, Leiter der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit in der Israelitischen Kultusgemeinde in München, auf Anfrage. So lässt sich das Verschwendungsverbot sogar schon präventiv einhalten.
Für die Bewegung «Jews Go Green», eine Plattform, die auf Initiative des Zentralrats gegründet wurde und auf einer Webseite und in Seminaren Informationen zum Thema Ökologie, Nachhaltigkeit und Judentum anbietet, gilt das Baal Taschchit auf jeden Fall als «wichtigste Losung» ihres Handelns. In den jüdischen Quellen lasse sich «vieles über Einstellungen zu Konsum, Tieren, Pflanzen und Umweltschutz» entdecken, sind die Initiatoren der Bewegung überzeugt. So bezieht sich der Imperativ «Lo taschchit!» ja keineswegs nur auf den sorgsamen Umgang mit Lebensmitteln.
Energieeinsparungen gehören genauso dazu. Und das ist das Feld, auf dem Aurélien David Agut einen Beitrag zu Tikkun Olam, zur Heilung der Welt, leisten will. Der 30 Jahre alte Franzose beschäftigt sich seit zehn Jahren mit der Kabbala. 2012 hat er in Frankfurt ein Start-up-Unternehmen gegründet, das sich darauf spezialisiert hat, Projekte zur Gewinnung von Erneuerbarer Energie in der Dritten Welt und in Schwellenländern als Berater für technische und wirtschaftliche Fragen zu unterstützen.
Windpark So reist Agut, meist im Auftrag der KfW Entwicklungsbank oder der Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit, nach Vietnam, um dort Bau und Funktionsweise eines gigantischen neuen Wasserkraftwerks zu überwachen, oder er begutachtet einen Windpark auf einer Insel im chinesischen Meer, oder aber er untersucht, wie viel CO2 sich durch die Errichtung einer Solaranlage im Senegal einsparen ließe und wie sich die Lebenssituation der Bevölkerung dort verbessern wird, wenn die Stromversorgung dank der Sonnenenergie endlich zuverlässig funktioniert. Bei allen diesen Vorhaben steht er in engem Austausch mit den Umwelt- und Energieministerien der jeweiligen Länder.
Gemeinsam versucht man, durch Ausbau des Anteils der Erneuerbaren Energie an der Stromerzeugung dem Klimawandel entgegenzuwirken. Aguts neuestes Geschäftsfeld führt diesen Gedanken sogar noch fort: Denn beim sogenannten Repowering werden bereits gebrauchte Windkraftanlagen aus Europa nach Asien und Afrika verschifft und dort erneut installiert. Besser lässt sich das Verbot der Verschwendung wohl kaum umsetzen.