Es geht um Geld und um Stadtplanung, um Geschichte und Erinnerung. Erinnerung, die nach Nietzsche »bei aller Flüchtigkeit doch als Gespenst wiederkommt und die Ruhe eines späteren Augenblickes stört«. Der Ohrenmensch, jene von Horst Perlick in Bronze gegossene »geistig-seelische Metamorphose des Menschen«, scheint tot. Begraben mit der Umgestaltung des Goetheplatzes, eines zentralen Platzes in der ostwestfälischen Kleinstadt Bünde.
An diesem Goetheplatz besaß bis zur Reichspogromnacht die jüdische Kaufmannsfamilie Spanier ihr Kolonialwarengeschäft. In der Nacht des 10. November ging es in Flammen auf, der Großteil der Familie wurde deportiert und ermordet. Es waren Bünder, die dabei halfen und davon profitierten.
Standort Der Goetheplatz sollte nach der Umgestaltung den Namen der Familie Spanier erhalten, Perlicks Skulptur ihn überragen. Eine in den USA lebende Nachfahrin und die Sparkassenstiftung hätten die Kosten für die Aufstellung des Ohrenmenschen übernommen: mehr als 30.000 Euro. CDU-Bürgermeister Wolfgang Koch war begeistert und übernahm die Schirmherrschaft.
Das ist nun vom Tisch, seit der Stadtrat einen Rückzieher machte, weil es angeblich an einem stadtplanerischem Gesamtkonzept mangelte. Selbst die Fördermittel des Landes, knapp 500.000 Euro, lagen schon bereit. Eine Provinzposse könnte man denken. Der Ohrenmensch als Kollateralschaden einer zweifelhaften kommunalpolitischen Entscheidung.
Perlick bezweifelt das. In Bünde wimmele es nicht eben vor öffentlichem Gedenken, auch wenn die Grünen vor einer »Verzettelung des Gedenkens« warnen. Eine Pressemeldung der SPD liest sich antiquiert: »Als Einstieg in die Aufarbeitung der städtischen Geschichte im sogenannten Dritten Reich« sah die Fraktion die Umgestaltungspläne. Sie sollten »der Verdrängung der teilweise unangenehmen eigenen Vergangenheit begegnen«.
Leerstelle Der Künstler möchte mit seiner Figur mahnen – aber ohne Zeigefinger. Perlick ist eher als Anthropologe zu verstehen. Die Figur des Ohrenmenschen zeigt einen sich in einer Verwandlung befindlichen Menschen, der – die Arme brüsk verschränkt – ein Ohr statt eines Kopfes besitzt. Ein Mensch, der hören kann, aber noch nicht fühlen. An dem Platz, an dem sein steinernes Herz saß, klafft eine Lücke. Ein Loch, in das das fleischerne, mitfühlende Herz eingefügt werden soll. Perlick glaubt an das Gute im Menschen. Der Ohrenmensch soll das, vielleicht etwas naiv, ausdrücken: »Er kommt aus der Vergangenheit, ist in der Gegenwart verankert und geht als neuer Mensch in die Zukunft.«
Historiker würden von der Interdependenz der drei Zeitebenen sprechen. Gute Voraussetzungen für echtes Erinnern. Doch Perlicks Glaube wird immer wieder erschüttert. »Muss er denn so groß sein?«, sei er gefragt worden. Perlick sieht Verdrängungsmechanismen am Werke und spricht über »Kommunikation im öffentlichen Raum«, fühlt sich missverstanden. Irgendwann sei der Bürgermeister mit dem Vorschlag gekommen, die Skulptur »neben einem Bushäuschen« aufzustellen. Das ist jetzt wohl auch vom Tisch. »Ich glaube, man möchte hier überhaupt keine Erinnerung an die NS-Zeit haben.«
Fragmente Vor 40 Jahren hat Perlick schon einmal in Bündes Geschichte gewühlt. Der aus Israel nach Bünde übergesiedelte Berliner stieß in der Provinz auf eine Mauer des Schweigens. Bei einem Spaziergang entdeckte er Steinfragmente mit hebräischen Inschriften. »Nein, hier gab es keine Juden«, hörte er immer wieder – und hakte nach.
Heute erinnert ein Gedenkstein an den jüdischen Friedhof. »Auch damals gab es viele Diskussionen«, so Perlick. »Man wollte der Opfer und Täter gemeinsam im Rathaus gedenken.« Er habe viele Anfeindungen erfahren, störe die Ruhe im beschaulichen Bünde. Nun erlebt er ein Déjà-vu. So sieht er es. Die Stadt habe ihm angeboten, eine kleine Skulptur im Rathaus aufzustellen. Für Perlick eine »Beisetzung im Mausoleum«.