Berlin

Wo werde ich hingehen?

»Ich möchte den Menschen etwas Schönes geben«: Vivian Kanner (54) aus Berlin Foto: Stephan Pramme

Berlin

Wo werde ich hingehen?

Vivian Kanner ist Sängerin und Schauspielerin – und denkt darüber nach, Deutschland zu verlassen

von Matthias Messmer  13.10.2024 11:02 Uhr

Nie hätte ich mir vorstellen können, meine Heimat Deutschland zu verlassen. Nun aber wird dieser Gedanke drängender. Seit dem 7. Oktober vergangenen Jahres lebe ich in einem »Tag-für-Tag-Modus«. Ich lebe in einer neuen Realität. Aber wo werde ich hingehen? Am liebsten irgendwohin, wo ich mein Dasein in der Schönheit der Natur leben kann. Ich habe in meinem Leben so viele wunderbare Sachen machen und erleben dürfen – das kann mir niemand nehmen.

Aufgewachsen bin ich in einem warmen, offenen, traditionell jüdischen Zuhause in München. Ich besuchte den jüdischen Kindergarten, die jüdische Grundschule und ging aufs Gymnasium. Mit dem bayerischen Abitur kokettiere ich übrigens noch heute. Meine Eltern haben meinen Berufswunsch stets unterstützt und gefördert: Ich wollte schon als Kind auf die Bühne.

In München habe ich meinen Weg begonnen, auf dem ich bis heute selbstbewusst und geerdet gehe. 1994 gab ich im legendären Theater »Die Kleine Freiheit« mein Debüt als Schauspielerin. In der Folge bin ich auf den Boulevardbühnen Münchens aufgetreten und habe viele Tourneen durch Deutschland, Österreich und die Schweiz gemacht. Parallel habe ich in Film- und Fernsehproduktionen mitgewirkt, Radio gemacht und als Synchronsprecherin gearbeitet.

Mein dunkles Stimm-Timbre habe ich von meiner Oma »geerbt«. Ich wurde die Frontfrau der Münchner Band »Gefilte Fish« und begann, jiddische Lieder zu singen. 2002 führten mich genau diese Lieder nach Berlin, und ich gründete die Band »Jewels«, die mit großem Erfolg durch Deutschland tourte. Meine Liebe zum Theater habe ich nie verloren. 2022 Die Dachauer Prozesse: Das erste Kriegsverbrechertribunal der Alliierten wurde am Originalschauplatz in der KZ-Gedenkstätte Dachau als Theaterstück aufgeführt. Ich verkörperte die historische Figur des Staatsanwalts Captain Lewis.

Deutschland ist meine Heimat. Hier bin ich geboren. Deutsch ist meine Muttersprache. Mein Vater war ein Überlebender, der in der Schoa außer einem Bruder seine gesamte Familie verloren hat. Meine Mutter lebte in der Schweiz, wohin meine Vorfahren aus Odessa und Ungarn vor dem Ersten Weltkrieg ausgewandert waren.

Meine Neffen dienen aktuell in der israelischen Armee

Meine Eltern lernten sich in der Schweiz kennen und wählten München als Wohnort. Nach fast 40 Jahren wanderten sie 1999 nach Israel aus. Mein Bruder lebt mit seiner Familie seit Jahrzehnten dort. Meine Neffen dienen aktuell in der israelischen Armee. Sie haben sicherlich in den letzten Monaten Dinge erlebt, die ich ihnen gern erspart hätte. Sie sind aber damit aufgewachsen, dass Israels Nachbarn nur die Vernichtung des jüdischen Volkes wollen. Selbstmordattentate und Raketenangriffe gehören leider zum Alltag in Israel. Meine Schwester lebt mit ihrer Familie heute in der Schweiz.

Wenn ich deutsche Medien verfolge, macht es mich wütend. In den vergangenen Jahren hat sich die Berichterstattung der Leitmedien auf eine Täter-Opfer-Umkehr eingeschossen. Angriffe auf Israel werden ignoriert. Erst wenn Israel sich verteidigt, beginnen die deutschen Medien, sich wertend zu äußern, und gefühlt hat jeder deutsche Staatsbürger eine Meinung zu Israel.

Vor ungefähr zehn Jahren veränderte sich etwas in der Gesellschaft. Spürbar für uns Juden: Primitive judenfeindliche Slogans durften ungestraft auf offener Straße skandiert werden, und antisemitische Übergriffe hatten kaum juristische Konsequenzen. Wie auch vor Kurzem für einen arabischstämmigen Studenten der FU Berlin, der einen jüdischen Kommilitonen krankenhausreif geschlagen hat und »aus formalen Gründen« keine Exmatrikulation zu befürchten hat.
Kulturstaatsministerin Claudia Roth duldet antisemitische Beiträge auf der documenta und Berlinale, und deutsche Spitzenpolitiker hofieren iranische Mullahs, die offen die Vernichtung Israels propagieren. All das ist für mich beschämend. Selbstverständlich sind auch die AfD und BSW ein großes Problem für unsere Demokratie. Aber ungeregelte Migration bringt seit Jahren Menschen ins Land, die den Judenhass mit der Muttermilch aufgesogen haben und Werte vertreten, die mit meinen freiheitlich-demokratischen Werten bei Weitem nicht übereinstimmen. Die gutmenschliche, aber viel zu naive Toleranz bestimmten Personengruppen gegenüber bringt unser Land massiv ins Wanken.

Vor ungefähr zehn Jahren veränderte sich etwas in der Gesellschaft. Spürbar für uns Juden

Wir Juden haben seit Jahrzehnten der deutschen Gesellschaft Rede und Antwort gestanden bei der Bewältigung von Schuldgefühlen und der »Verarbeitung« des Holocaust. Was ist der Dank dafür? Ein Großteil der deutschen Gesellschaft und Medien ist gerade dabei, uns Juden erneut zu verraten. All das Betroffenheitsgerede und Blumenkränze an Holocaust-Gedenktagen, die Woche der Brüderlichkeit oder die Stolpersteine sind in den letzten Jahren zu einer Farce verkommen, die Reden von Bundespräsidenten und Kanzlern von deutscher Staatsräson gegenüber Israel reine Wort­hülsen.

Europa hat noch nicht ganz verstanden, dass Israel für die freiheitlich-demokratischen Werte gegenüber dem islamistischen Terror steht und dort an vorderster Speerspitze für uns alle kämpft. Israel wird diesen Kampf, der Europa noch bevorsteht, gewinnen. Da bin ich mir absolut sicher. Umso perfider ist es, wie Europa Israel in den Rücken fällt.

Anlässlich des Festakts »1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland« 2021 wurde ich eingeladen, einen musikalischen Beitrag zu leisten. Dafür habe ich das Lied »Irgendwo auf der Welt« gewählt, geschrieben von Werner Richard Heymann, dem meistgespielten Komponisten der Weimarer Zeit, Filmpionier und Generalmusikdirektor der UFA. Es war berührend für mich, dass ich an seiner früheren Wirkungsstätte auf dem Babelsberger Film­gelände dazu ein Musikvideo drehen durfte.

Zu meinem Repertoire gehören neben jiddischen Liedern seit über 15 Jahren deutsche Chansons jüdischer Komponisten der 1920er-Jahre

Zu meinem Repertoire gehören neben jiddischen Liedern seit über 15 Jahren deutsche Chansons jüdischer Komponisten der 1920er-Jahre, die in Berlin wirkten und das kulturelle Leben Deutschlands prägten. Sie alle haben spätestens 1933 Deutschland verlassen. Seit 2011 singe ich das Lied »An allem sind die Juden schuld« des jüdischen Komponisten Friedrich Hollaender, der diesen Text 1931 für das politische Kabarett in Berlin schrieb. Für die Anthologie Antisemitismus für Anfänger wurde ich gebeten, den Text zu aktualisieren, da die Juden offenbar »immer noch an allem schuld« sind.

Der ukrainische Musiker, »Russendisko«-DJ und Autor Yuriy Gurzhy widmete mir ein Kapitel in seinem Buch Richard Wagner und die Klezmerband. Auf der Suche nach dem neuen jüdischen Sound in Deutschland, und ich war auch Teil der TV-Dokumentation Jewish Songbook in der ARD.

»Ich kann jar nich so viel fressen, wie ich kotzen möchte«, war Max Liebermanns Reaktion auf Hitlers Machtergrei­fung. Und ich? Ich habe gar nicht so viele Tränen, wie ich weinen könnte bei dem Gedanken, dass »Nie wieder« in den letzten Monaten eine neue Bedeutung bekommen hat: Nie wieder sollten jüdische Geschäfte gekennzeichnet werden, nie wieder sollten jüdische Studenten bedroht werden, nie wieder sollten Juden wegen ihrer Identität in Angst leben, nie wieder sollten Juden ihre Heimat deshalb verlassen.

Bei meinem Konzert wurden jüdisches Leben und jüdische Kultur gefeiert

Vor einigen Wochen trat ich im Garten der Villa Liebermann am Wannsee mit meinem langjährigen musikalischen Begleiter Maxim Shagaev auf. Wir spielten meine »Lebenslieder«. Lieder, die mir aus der Seele sprechen und von Herzen kommen. Lieder von Zeitgenossen Max Liebermanns. Der schöne Applaus an jenem Sommerabend im Garten der Villa Liebermann hat mich glücklich gemacht. Nur wenig entfernt fand seinerzeit die Wannsee-Konferenz statt. Bei meinem Konzert wurden jüdisches Leben und jüdische Kultur gefeiert. Das Publikum hat mir emphatisch gezeigt, dass es trotz allem noch Hoffnung auf Menschlichkeit gibt.

Die große Welt kann ich nicht ändern. Aber in meiner kleinen Welt will ich den Menschen etwas Schönes geben. Auch mit meiner Musik. Ich möchte die Menschen positiv daran erinnern, dass die Juden ein warmherziges, kultiviertes, resilientes und humorvolles Volk sind, ein Volk, das der Welt sehr viel Gutes gegeben hat: Musik, Literatur, Kunst, Wissenschaft und vor allem Menschlichkeit. Ich erinnere mich täglich an die Worte meines Vaters sel. A., der es mir vorlebte und zu mir sagte: »Sei ein Mensch!«

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