Hohe Feiertage

Wo man singt

Ausgerechnet an Jom Kippur war er mit der Qualität seiner Gesangsstimme nicht mehr hundertprozentig zufrieden. Da war Laszlo Pasztor, Kantor der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, 78 Jahre alt. Das ist nun fünf Jahre her. Seitdem mochte er nicht mehr amtieren. »Es war eine schöne Zeit«, beschreibt der 83-Jährige rückblickend sein 60-jähriges Arbeitsleben.

Pasztors gesamtes Wohnzimmer legt Zeugnis von seiner Tätigkeit ab, der Deckel des Klaviers kann jederzeit aufgeklappt werden, die Schallplattensammlung ist umfangreich, überall hängen Fotos von ihm mit der Torarolle im Arm auf der Bima in verschiedenen Synagogen der Welt, und in Regalen stehen seine Gesangbücher. Er nimmt ein dickes heraus und schlägt es auf.

Es ist eines seiner Lieblingswerke – ein handgeschriebenes Buch von Martin Schachtel, der 40 Jahre lang, bis 1940, Kantor in der Göteborger Synagoge war und ausschließlich mit Lewandowski-Melodien vorbetete. In seinem Buch über die Hohen Feiertage ist jedes Wort mit Noten versehen. Lewandowski pur.

lebensunterhalt Dass er Ungarn, wo er geboren wurde und aufwuchs, einmal verlassen würde, erschien Pasztor damals, hinter dem Eisernen Vorhang, völlig unrealistisch. Doch sein Lehrer Sigmund Torday, einst Kantor in Berlin und Danzig, prophezeite seinem Lieblingsschüler bereits am Anfang seiner Laufbahn: »Eines Tages wirst du im Ausland für die ganze Welt Konzerte geben.«

Pasztor verdiente bereits mit 18 Jahren seinen Lebensunterhalt als Sänger im Synagogenchor in seiner Heimatstadt Budapest. Drei Jahre später nahm er am Béla-Bartók-Konservatorium ein Gesangsstudium auf und wurde anschließend Chormitglied an der Budapester Staatsoper. Der Liturgie blieb er auch in dieser Zeit treu.

Torday sollte recht behalten: Sein einstiger Lieblingsschüler trat auf vielen Bühnen der Welt auf und amtierte zudem als Kantor erst in Österreich und Schweden, dann in Holland – und Deutschland. Damit zählt er zu den wenigen Kantoren, die in der Nachkriegszeit bereit waren, ausgerechnet in Deutschland, dem Land der Täter, zu arbeiten.

mangelware Seit 22 Jahren singt auch Kantor Simon Zkorenblut in den Synagogen der Jüdischen Gemeinde zu Berlin. Jahrelang waren Pasztor und er Kollegen. »Es gibt zu wenige Kantoren«, sind sich heute beide einig. »Gute Kantoren sind immer noch Mangelware«, meint auch Jascha Nemtsov, Akademischer Studienleiter der Kantorenausbildung am Abraham Geiger Kolleg. Deutschland leide immer noch an den Auswirkungen der Schoa, meint er – Rabbiner oder Kantoren anzuziehen, sei in der Nachkriegszeit schwierig gewesen, da Deutschland wegen der Schoa tabu war.

Seit das Abraham Geiger Kolleg das Studienfach anbietet, werden auch in Deutschland »Kantoren investiert«, wie es im Fachjargon heißt. In den letzten Jahren gab es mehrere Absolventen, die nun als Kantoren tätig sind, einige von ihnen in Deutschland, andere im Ausland.

Benjamin Munk, Kantor der Synagoge Köln, schätzt, dass in der Bundesrepublik heute etwa zehn orthodoxe Kantoren amtieren. Fast alle, die in einer orthodoxen Synagoge im Einsatz sind, seien in Israel oder in den USA ausgebildet worden. Bei den liberalen dürften es etwa doppelt so viele sein, vermutet Amnon Seelig, Kantor in Mannheim.

anforderungen »Ich würde vorsichtig mit den Zahlen umgehen«, gibt Jascha Nemtsov zu bedenken. Vor allem möchte er die Kantoren nicht in »orthodox« und »liberal« einteilen. Das Geiger-Kolleg bildet für alle Strömungen des Judentums aus, wobei den Frauen der Weg als Kantorin in eine orthodoxe Synagoge in Europa versperrt bleiben dürfte. Allerdings sei der Titel Kantor nicht geschützt, weshalb sich jeder so nennen könne. Etwa 100 jüdische Gemeinden gibt es in Deutschland, aber nur die großen haben Kantoren fest angestellt. In einigen Gemeinden übernehmen Vorbeter die Aufgabe.

Das Abraham Geiger Kolleg bildet in Berlin und Potsdam Rabbiner aus, seit 2008 auch Kantoren. Es ist die erste akademische Ausbildungsstätte für jüdische Amtsträger in Deutschland seit Schließung der Berliner Hochschule für die Wissenschaft des Judentums durch die Nazis 1942. Jährlich gibt es etwa zehn bis zwölf Interessenten, aber nicht alle sind geeignet und werden als Studenten angenommen. Derzeit werden sieben ausgebildet.

»Die Anforderungen gehen über ein Musikstudium hinaus, denn das muss man schon mitbringen«, sagt Jascha Nemtsov. Die Studenten müssen sich mit jüdischen Inhalten auseinandersetzen, im Judentum »zu Hause sein«, über ein fundiertes Wissen über Tora, Tanach und Kaschrut verfügen. Es gehe schließlich um »die Vermittlung spiritueller Werte an die Gemeinde«. Das sei der Kern des Berufs. Auf den Rabbiner könne man im Gottesdienst auch einmal verzichten – nicht aber auf den Kantor. Denn der jüdische Gottesdienst sei Musik. Es gebe nichts Gesprochenes, da alles gesungen wird. Auch die Tora-Abschnitte müssen mit genau festgelegten Melodien vorgetragen werden – eine Wissenschaft für sich.

qualitäten Hinzu kommt, dass menschliche Qualitäten stimmen müssen, denn Kantoren üben auch eine Führungsrolle aus. »Sie sollten gut mit Menschen umgehen können – es reicht nicht, nur gut zu singen«, betont Nemtsov. Wie lange ein Student braucht, bis er seinen Abschluss in der Tasche hat, ist bei jedem unterschiedlich.

»Manche können bereits perfekt Hebräisch, kennen sich aber in der Liturgie nicht so gut aus, bei anderen ist es umgekehrt.« Je nach Ritus erwarten die Beter eine aschkenasische oder sefardische Aussprache, Althebräisch oder Iwrit. Mit dem Abschlusszeugnis im Gepäck amtieren Kantoren-Absolventen in Frankreich, Belgien, Luxemburg, Schweden und Deutschland.

Zeugnisse oder Empfehlungsschreiben spielten bei Laszlo Pasztors Werdegang noch keine Rolle – seine potenziellen Arbeitgeber überzeugten seine absolute Sicherheit in der Liturgie und sein Können. Aus Budapest bewarb er sich erst bei einem Opernchor in Innsbruck, was ihm den Weg frei machte für die Ausreise. Auch dort übernahm er kleinere kantorale Aufträge. Aber bald bekam er eine Einladung nach Göteborg, wo er 13 Jahre lang amtierte und wo seine beiden Kinder aufwuchsen. Dann lockte ihn ein Angebot nach Amsterdam. Er gab viele Konzerte und wurde immer bekannter.

studenten Auch Heinz Galinski, der frühere Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, wurde auf ihn aufmerksam und versuchte ihn abzuwerben. Gleichzeitig warb eine Synagoge aus den USA um Pasztor. Doch aus Rücksicht auf das Alter seiner Mutter, eine Schoa-Überlebende, schlug er das Angebot aus – zu groß war die Entfernung. Pasztor kannte sich schon damals mit der Lewandowski-Liturgie bestens aus, weshalb Heinz Galinski ihn für die Synagoge Pestalozzistraße gewinnen wollte.

Als Dozent gab Pasztor sein Wissen auch gerne an Studenten beim Abraham Geiger Kolleg weiter, darunter an Aviv Weinberg, die in diesem Jahr als freischaffende Kantorin in Luxemburg bei den Hohen Feiertagen amtieren und schließlich nach Magdeburg gehen wird, an Amnon Seelig, der nach Düsseldorf nun in Mannheim die Gottesdienste gestaltet, wie auch an Nikola David, der in München bei Beth Schalom und einmal im Monat in Stuttgart amtiert – und mit dem Pasztor außer dem Beruf noch etwas verbindet. Denn auch David sang früher auf den Opernbühnen – am Landestheater Thüringen, am Opernhaus Dessau und am Theater Augsburg. Und wie sein Lehrer wuchs er nicht in Deutschland auf.

hochzeiten Als Jugendlicher hätte sich der heute 48-Jährige die spätere Entwicklung in seinem Leben nicht vorstellen können. Damals lebte Nikola David im serbischen Novi Sad, sang in einem Chor und träumte davon, die Musik eines Tages zu seinem Beruf zu machen. »Leider hatte ich damals keine Möglichkeit, die Liturgie in der Synagoge kennenzulernen – das gab es bei uns nicht.«

Erst ein Stipendium für ein Aufbaustudium brachte ihn nach Deutschland. Dann brachte Rabbiner Henry Brandt die Wende in seinem Leben, denn durch die Gespräche entdeckte Nikola David die Religion und seine weitere Berufung: Kantor zu werden. Am Abraham Geiger Kolleg in Berlin war er einer der ersten Kantorenstudenten. 2012 wurde er »investiert«, und bald darauf begann er als Kantor in der liberalen jüdischen Gemeinde in München zu arbeiten. »Ich bin glücklich mit meiner Arbeit«, sagt er heute.

Mittlerweile hat er einen Chor gegründet, der aus etwa 14 Betern besteht, sodass man drei- bis vierstimmige Werke auch in die Liturgie einbauen kann. Neben seinen kantoralen Aufgaben bei Hochzeiten, Beschneidungen und Beerdigungen gibt er auch Religionsunterricht in Schulen.

beter Amnon Seelig amtiert in der Einheitsgemeinde Mannheim, die als orthodox gilt. Er hat mittlerweile viele Erfahrungen gesammelt, beispielsweise auch, wie flexibel eine Beterschaft bei der Auswahl der Melodien sein kann – oder eben nicht. »In der Synagoge des Jüdischen Altersheims in Berlin wollte ich eine Melodie etwas anders gestalten und sang voller Hingabe. Der Gabbai schaut mich böse an, und die Beter sangen wie immer und übertönten mich«, erzählt er und lächelt.

Und in einer anderen Synagoge nahm ihn einmal ein Beter beiseite und machte einen Termin mit ihm aus. »Sie singen nicht so, wie wir es hier gewohnt sind«, teilte er ihm mit und ging anschließend alle Melodien mit ihm durch. In Mannheim hingegen entscheide eher der Kantor, was gesungen wird. Einige Melodien stehen auch hier fest – als er einmal eine von ihnen nicht kannte, bat er den Oberkantor, sie ihm vorzusingen.

Laszlo Pasztor hat ebenfalls seine Erfahrungen mit neuen Melodien gemacht. »Als ich etwas ausprobierte, rief mich am nächsten Tag eine Beterin an und sagte, die Melodie sei ja schön, aber beim nächsten Mal bitte wieder unsere.«

gespür Situationen wie diese kennt auch Benjamin Munk. »Auf der einen Seite gibt es schöne Kompositionen, auf der anderen Seite hat die Gemeinde ihre eigenen Vorlieben.« Als Kind in Israel hörte Benjamin Munk fasziniert dem Chasan zu – und merkte, wie der Gesang ihn berührte. Er übte lange intensiv und wurde schließlich an der Kantorenschule in Tel Aviv aufgenommen, die er Jahre später leitete, und amtierte in der Großen Synagoge in Jerusalem.

Und dennoch: Einen offiziellen Abschluss habe er nicht, sagt er. In Köln hat Munk nun – wie auch schon in Israel – einen Chor gegründet. »Dadurch werden die Beter musikalischer«, mit seiner Hilfe bringe er auch die Gemeinde leichter dazu mitzusingen, und somit lebe auch die ursprüngliche Musik weiter. Die Musik sei untrennbar verknüpft mit den Geboten und der Verbindung zu Gott. Gerade zu den Hohen Feiertagen ist es sein Anliegen, diese Verbindung zu verstärken. »Für mich ist es wichtig, die Gemeinde gut zu kennen.«

Darauf kommt es auch Rabbiner Andreas Nachama an, dessen Vater Estrongo jahrzehntelang als Oberkantor die Jüdische Gemeinde zu Berlin mitprägte. »Ich bin mir nicht so sicher, ob eine großartige Stimme so eine Bedeutung hat«, sagt Nachama. Für ihn sei es hingegen wichtig, dass der Kantor oder Vorbeter die Tora lesen und das Schofar blasen kann. Und er müsse »ein Gespür für die Gemeinde« haben.

routine Auch immer mehr Frauen möchten mittlerweile als Kantorin amtieren. Derzeit ist Avital Gerstetter die einzige Kantorin in Deutschland, die eine feste Stelle hat. Sie amtiert in der Synagoge Oranienburger Straße, wo auch die ausgebildete Sopranistin Mimi Sheffer, die seinerzeit die Kantorenausbildung des Abraham Geiger Kollegs initiierte, zeitweise amtierte – als erste Kantorin in Deutschland nach der Schoa.

Für Simon Zkorenblut wäre ein Opernauftritt eine »Horrorvorstellung«. »Die Musik empfinde ich als Begleitung des religiösen Textes«, sagt der Kantor, der zwischen den Synagogen Pestalozzistraße und Fraenkelufer pendelt. 1984 kam der gebürtige Argentinier nach Berlin, sang im Synagogenchor und studierte Judaistik. Er freue sich auf jeden Gottesdienst. »Routine kenne ich nicht«, sagt er. Die Musik helfe, »das Gebet auszudrücken«. Genau das sei es, was ihm an seiner Kantorentätigkeit so gefällt. Und auch Laszlo Pasztor freut sich, wenn er zu den Hohen Feiertagen seinen Kollegen zuhören darf.

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