Vor ungefähr 25 Jahren habe ich angefangen, Plastiktüten als Material für meine Kunst zu benutzen. Vorher hatte ich mit Resopal gearbeitet: Für mich repräsentierte dieser Werkstoff damals die alte Weltordnung, die in eine erste, zweite und dritte Welt eingeteilt wurde. Die unterschiedlichen Schichten von Resopal – seine glänzende Oberfläche, die Spanplatten dazwischen und seine Unterseite – standen für mich symbolisch für jene Aufteilung.
Mit dem Fall der Mauer zerfiel in meinen Augen auch diese Ordnung des Kalten Krieges, und ich brauchte ein neues Medium. So kam ich zu Plastiktüten. Du kannst sie formen; wenn man sie anpustet, bewegen sie sich – das fand ich faszinierend, weil das für mich die globale Situation widerspiegelte, die ich als veränderbar, fragil und ungewiss empfand. Hinzu kommt der ökologische Aspekt.
Wie vorher schon Resopal sind Plastiktüten ein petrochemisches Material, mit dem mich eine Hassliebe verbindet – für mich ein zentrales Element von Kunst: Liebe reicht nicht als Motivation, ebenso wenig wie Hass allein.
WEGWERFGESELLSCHAFT Zu Beginn habe ich die Plastiktüten in tropfsteinförmigen Installationen verarbeitet, bevor ich zu meiner heutigen Technik kam: Ich zerschneide die Tüten und komponiere aus den Schnipseln meine Bilder, womit ich schon fast zur Malerei zurückkehre.
Dabei erstelle ich zum einen Porträts, die Menschen bei mir beauftragen können. Zum anderen inspirieren mich Umweltkatastrophen, die ich in meinen Bildern verarbeite. Mein Finger zeigt damit auf die Industrie: Die Plastiktüte ist ein Symbol unserer Wegwerfgesellschaft, in der die Industrie keine Verantwortung übernimmt.
Dabei geht es mir gar nicht nur um Plastiktüten an sich, sondern generell darum, dass wir so viel Müll produzieren. Und dass Erdöl für etwas anderes eingesetzt werden sollte.
Schon als Kind, mit neun oder zehn Jahren, wusste ich, dass ich Künstler werden will – und das, obwohl ich in Haifa aufgewachsen bin, wo es zu jener Zeit kaum Galerien gab. Heute habe ich zwei Füße in der Kunst: Der eine Fuß sind die Plastiktüten, der andere meine Familiengeschichte, die auch eng mit der Kunst verbunden ist.
ENTDECKUNG Als ich 1988 nach Berlin kam, hatte ich davon allerdings keine Ahnung. Damals waren für mich der Tag, die Zukunft, ich selbst und meine Kunst wichtig. Das änderte sich schlagartig, als ich das Buch Effingers las, in dem meine Großtante Gabriele Tergit ebenjene Familiengeschichte literarisch verarbeitete. Das war ein Schock für mich.
Eigentlich ist Erinnerung im Judentum zentral, und plötzlich merkte ich, dass da ein großes Schweigen herrschte. Ich habe eine Theorie dazu, warum mein Großvater nie etwas über unsere Vergangenheit erzählte. In den 20er-Jahren ging er als Zionist nach Palästina – vielleicht wollte er nicht, dass jemand zurückgeht. Aber das ist nur eine Theorie, die Wahrheit werden wir nie erfahren.
Von den 900 Kunstobjekten meines Onkels sind 800 bis heute verschwunden.
Alle meine Großeltern waren Deutsche, auf der Seite meines Vaters stammten beide Familien aus Berlin. Nachdem ich nun das Buch gelesen hatte, traf ich meinen Cousin in Tel Aviv, der durch eine Internetrecherche auf Spuren eines unserer Vorfahren, Herbert Ginsberg, und dessen Kunstsammlung stieß.
Mein Cousin meinte, dass mich das als Künstler interessieren könnte, und so begann ich meine Recherche, durch die ich schließlich immer mehr über die Berliner Großfamilie Ginsberg-Sachs erfuhr.
Herbert war der Großneffe meiner beiden Urgroßonkel Ludwig und Max. Die drei führten ein privates Bankhaus, waren aber auch bedeutende Kunstsammler: Ludwig hatte die vermutlich größte Privatsammlung an Papierarbeiten von Adolph von Menzel, Herbert besaß eine der umfangreichsten und wertvollsten privaten Berliner Ostasiatica-Sammlungen, die fast 900 Objekte enthielt, und Max hatte eine wahrscheinlich 400 Objekte umfassende Sammlung islamischer Kunst.
RAUBKUNST Auf einer Party vor drei Jahren erzählte ich Freunden von meiner Suche, und diese brachten mich mit Julia Albrecht zusammen. Julia ist Rechtsanwältin und Filmemacherin und beschäftigt sich schon seit Langem mit dem Thema Raubkunst. Als ich sie kennenlernte, bekam die Arbeit einen wirklichen Schub – Julia war und ist mein Engel.
Zusammen begannen wir, in Archiven nachzuforschen. Außerdem hatten wir einen Forschungsbericht von Hannah Skoda, einer Provenienzforscherin, die die drei Sammlungen in diesem Bericht für das Kupferstichkabinett zumindest in Ansätzen beschreiben konnte.
Zu jener Zeit hatte die Deutsche Stiftung für Kulturgutverluste ihre Statuten geändert, sodass nicht nur Museen einen Antrag auf Förderung stellen konnten. Und das habe ich gemacht. Tatsächlich wurde ich dann als gerade einmal zweite Privatperson gefördert, um die Sammlung von Ludwig zu untersuchen, herauszufinden, was mit ihr passiert ist und wo sich die Werke heute befinden.
Es geht mir nicht um die Suche nach Sachen, sondern um die Suche nach Geschichten.
Das gleiche Ziel verfolgt das zweite genehmigte Projekt zur Ostasiatica-Sammlung von Herbert. Dieser war 1938 in die Niederlande geflohen und brachte seine Objekte als Leihgabe im Gemeentemuseum in Den Haag unter. Nach der deutschen Besetzung vertraute Herbert die Kunstwerke einem Bankier in Rotterdam an, wo sie nach einer Durchsuchung allerdings von den Nationalsozialisten beschlagnahmt wurden.
Nach dem Krieg wurde nur eine Kiste mit gerade einmal 100 Objekten gefunden, der restliche Großteil ist bis heute verschwunden. Auch bei der Sammlung islamischer Kunst von Max wissen wir nicht, was mit dieser passiert ist. Zu dieser würden wir gerne ein drittes Projekt machen.
TEAM Aus dem anfänglichen Unwissen über die Familiengeschichte ging es zum ersten Antrag, und jetzt sind wir ein Team von sieben Menschen – von denen zwei über die Projekte finanziert werden –, die gemeinsam forschen. Eine gewaltige Aufgabe, denn wir suchen mehr als 1000 Objekte einer sehr großen Familie, deren Name in Vergessenheit geraten ist. Dabei geht es mir allerdings nicht um die Suche nach Sachen, sondern um die Suche nach Geschichten. Durch die Leerstelle in der Familiengeschichte fehlt für mich der Übergang ins Heute.
Es gibt nicht nur ein Schweigen in der Familie, sondern auch ein Schweigen in der Stadt.
Es gibt aber nicht nur ein Schweigen in der Familie, sondern auch ein Schweigen in der Stadt. Das zeigt das Beispiel von Louis Sachs, dem Onkel von Ludwig und Max. Er war Stadtverordneter, außerdem langjähriger Vorsitzender des Vorstandes des Jüdischen Krankenhauses. Ohne ihn hätte es dessen Neubau nicht gegeben.
Zusammen mit seiner Frau Rosa, geborene Ginsberg, gründete er zudem das Jüdische Erholungsheim Lehnitz. Doch in all diesen Büchern über das jüdische Leben in Berlin wird über meine Familie geschwiegen. Dabei hat diese viel für die jüdische Gemeinde, aber auch für die Stadt insgesamt getan.
Jede Woche kommt ein weiteres Puzzlestück hinzu, durch das ich mehr über meine Vorfahren erfahre – und einen neuen Blick auf Berlin entwickle. So stand beispielsweise nahe der heutigen Akademie der Künste einst die Villa von Louis und Rosa, die mit ihren mehr als 1500 Quadratmetern genug Platz für mehrere Familien bot und einige arme Dichter, die dort an der Brückenallee 1 kostenlos lebten.
Das zweite Zentrum war eine Villa in der Viktoriastraße 9, nahe des Potsdamer Platzes, wo meine Urgroßmutter als Tochter von Adolf und Franziska Ginsberg, der Schwester von Louis Sachs, zur Welt kam. Fast die gesamte Familie lebte zwischen diesen beiden Villen und sehr eng miteinander, ebenso teilten sie ihr philanthropisches Engagement.
DETEKTIVARBEIT Meine Recherche fühlt sich bisweilen ein wenig wie Detektivarbeit an: Manchmal empfinde ich dabei Frust und Wut, zumal sie mich mit dem Horror jener Zeit konfrontiert, aber es ist auch Dankbarkeit dabei, weil ich so viel Hilfe bekomme.
Jede Woche kommt ein weiteres Puzzlestück hinzu, durch das ich mehr über meine Vorfahren erfahre – und einen neuen Blick auf Berlin entwickle.
Am Ende meiner Suche würde ich gerne eine große Ausstellung organisieren, die meine eigenen Arbeiten neben Archivaufnahmen und vielleicht gar Objekten aus den Sammlungen, die wir bis dann zurückbekommen haben, zeigt. Außerdem würde ich gerne ein Buch über die Familiengeschichte schreiben, ein Hybrid aus Effingers und unseren neuen Erkenntnissen.
Vor allem Louis Sachs wie auch Adolf Ginsberg hatten die meiste Freude daran, zu teilen. Insofern zeigt meine Familiengeschichte eine andere, sozial engagierte kapitalistische Erzählung. Das finde ich interessant angesichts des schrecklichen Kapitalismus, den wir aktuell sehen.
Bevor ich von meiner Familiengeschichte erfuhr, lief ich blind durch Berlin. Das Wissen bedeutet nun eine Verantwortung für mich. Ich würde mich freuen, wenn Louis Sachs und die anderen einen Platz in der Geschichte dieser Stadt bekämen. Das Schweigen, das bislang herrschte, ist für mich unerklärbar – aber das werde ich jetzt ändern.
Aufgezeichnet von Alice Lanzke