Wer dieser Tage durch Frankfurt am Main läuft, begegnet so vielen russisch sprechenden Menschen wie seit Jahren nicht mehr. Insbesondere rund um einige Hotels ist die Sprache schon fast vorherrschend. Doch man trifft weder auf die vor der Pandemie üblichen Messebesucher noch auf Touristen, sondern vor allem auf Frauen, Kinder und Senioren, die vor dem Krieg in der Ukraine geflohen sind. Eine von ihnen ist Swetlana Giter. »In Frankfurt sind wir seit dem 16. März«, berichtet die 40-Jährige in der Lobby eines Hotels am Hauptbahnhof.
Neben etlichen weiteren Familien durfte sie dank des Engagements aktiver Mitglieder von Makkabi Frankfurt und der Jüdischen Gemeinde fürs Erste dort unterkommen. Giter kam mit ihrem zehnjährigen Sohn Daniil, ihrer sechsjährigen Tochter Monika sowie ihrer 75-jährigen Mutter Tamara nach Frankfurt. »Wir sind am 2. März aus Kiew ausgereist«, erzählt die Direktorin eines Möbelgeschäfts im Zentrum der ukrainischen Hauptstadt.
Ihre Mutter, die neben Russisch unter anderem auch Jiddisch spricht, wollte eigentlich nicht ausreisen.
Ihr Mann, ein Sales Manager, musste in der Ukraine bleiben: »Er ist jetzt Freiwilliger.« Ihre Mutter, die neben Russisch unter anderem auch Jiddisch spricht, wollte eigentlich nicht ausreisen: »Ich habe sie gezwungen.« Auch sie selbst wollte bis zuletzt nicht fliehen. »Ich habe geweint«, gibt Giter zu. Sie habe den Krieg zunächst nicht realisiert, erzählt sie. Ihre Mutter weckte sie am 24. Februar mit den Worten »Sweta, es ist Krieg«, doch sie wollte einfach weiterschlafen. Als Russischsprachige habe sie in Kiew ohnehin nie Probleme gehabt. »Von wegen, wir werden befreit«, kommentiert Giter das Propagandanarrativ des Kreml.
Schutzraum Vor der Flucht verbrachte die Familie acht Nächte in einem Schutzraum in Kiew. Tagsüber seien sie im Haus geblieben, berichtet Swetlana Giter: »Man hat uns gesagt, welcher Ort in unserer Wohnung am meisten Schutz bietet.« Im unweit gelegenen Haus, in dem eine enge Freundin lebt, schlug am 26. Februar eine Rakete ein. Glücklicherweise war die Freundin zuvor geflohen.
Dann schildert Giter, die erstaunlich gefasst wirkt, die gemeinsam mit einigen weiteren Familien organisierte Flucht aus Kiew, die zunächst mit einem Bus nach Moldawien führte. »Wir sind zu viert mit nur einem Koffer geflohen«, sagt sie. Zum Packen hatten sie nur eine Stunde Zeit. Nach wenigen Tagen ging es weiter nach Bukarest, wo die Giters bei einer jungen Familie von freiwilligen Helfern unterkommen konnten: »Wir wurden sehr gut aufgenommen.«
In der rumänischen Hauptstadt verbrachte die Familie Giter knapp eine Woche, dann stieg sie in den Zug nach Budapest, um von dort in die österreichische Hauptstadt weiterzureisen. Lebhaft schildert Swetlana Giter die letzte Etappe der Flucht, die Zugreise von Wien nach Frankfurt: In dem Wagen hätten zahlreiche ukrainische Kinder getobt, umso erstaunter sei man über die deutschen Bundespolizisten gewesen, die Bonbons an die Kleinen verteilten. Nun sitzt Swetlana Giter im Hotel, ihre Kinder sind beim Mittagessen, die Mutter besucht ihre in Hannover lebende Zwillingsschwester. Giter beklagt die Langsamkeit der Bürokratie: »Alle sagen, wir müssen warten.«
»Aber wir kommen nicht aus einem Land, in dem man wartet«, betont sie. Giter erzählt dann von ihrem Sohn, der in Kiew im jüdischen Kindergarten war und die »Simcha«-Schule im Chabad-Gemeindezentrum besuchte. Daniil nahm zudem regelmäßig an jüdischen Ferienfreizeiten teil.
kippa Er lese, schreibe und spreche Hebräisch, sagt Giter. Als die Flucht aus Kiew feststand, packte ihr Sohn als Erstes seine Kippa ein. Monika wurde ebenfalls in der »Simcha« eingeschult. Und auch wenn ihr Mann nicht jüdisch sei, habe man aktiv am Gemeindeleben teilgenommen, resümiert Giter. Erste Berührungspunkte mit der Frankfurter Gemeinde hat die Familie bereits: An Purim war sie mit Daniil und Monika in der Westend-Synagoge, Rabbiner Avichai Apel sprach sie dort an. Giter berichtet zudem von einem ersten Telefonat mit der Beratungsstelle der Gemeinde. Sie muss nun Daten und Formulare einreichen. Auch bei Chabad war sie schon.
»Meine Mutter weckte mich mit den Worten: ›Sweta, es ist Krieg.‹«
Swetlana Giter möchte ihre Kinder auch in Deutschland auf eine jüdische Schule schicken: »Sie können Hebräisch. Sie kennen die Tradition. Warum sollen sie das verlieren?« Es sei ohnehin schwierig, ihnen die Situation zu erklären, und im Hotel könnten sie kaum lernen.
Auch die irgendwann anstehende Wohnungssuche bereitet Giter Sorge. »Wir fangen unser Leben hier von Neuem an«, sagt sie. Man habe nicht fliehen wollen: »Wir mussten.« »Wir wollen nach Hause zurückkommen«, betont die 40-Jährige. »Aber wir wissen nicht, wann das möglich ist.« Und so bleibt Swetlana Giter kaum etwas anderes übrig, als die unter den Geflüchteten allgegenwärtige Ungewissheit zu beklagen: »Wir wollen wissen: Wie weiter?«