Jüdisches Krankenhaus

»Wir wollen Klarheit«

Herr Graf, das Jüdische Krankenhaus hat sich als Reaktion auf das Kölner Urteil entschlossen, vorerst keine Beschneidungen mehr durchzuführen. Warum?
Graf: Das Urteil, das vergangene Woche veröffentlicht wurde, hat zu einer enormen Verunsicherung geführt. Unsere Ärzte sind im Krankenhaus angestellt, und wir sind aufgrund des Urteils nicht in der Lage, sie mit gutem Gewissen zu veranlassen, eine Operation durchzuführen, für die sie möglicherweise strafrechtlich belangt werden können.

Diese Reaktion erfolgte sehr schnell. Hätten Sie als jüdisches Krankenhaus selbstbewusster sein sollen?
Graf: Es ist ja nicht so, dass wir uns entschieden haben ›Wir machen das nie wieder‹. Wir haben nur gesagt, wir setzen die Beschneidung jetzt aus. Es ist auch gar nicht in unserem Interesse, diesen Eingriff nicht mehr durchzuführen. Das Einzige, was wir wollen, ist eine gewisse Rechtssicherheit und eine Orientierung, wie wir weiterhin verfahren sollen. Das heißt im Moment, dass wir sowohl mit den Juristen, die unser Haus beraten, als auch mit der Jüdischen Gemeinde zu Berlin im Gespräch sind, wie wir weiter mit diesem Thema verfahren. Der Krankenhausvorstand kann sich jedoch nicht vorstellen, dass es keine Beschneidungen mehr geben wird.

Für wie lange werden Sie Beschneidungen nun aussetzen?
Graf: Das kann ich momentan noch nicht sagen. Wir sind eine Stiftung des bürgerlichen Rechts. Alle Ärzte haben bei uns einen Dienst- und Arbeitsvertrag. Das heißt, wir können sie schon beauftragen, dieses und jenes zu tun. Aber sobald das Strafrecht eine Rolle spielt, kann niemand von den angestellten Ärzten verlangen, dass sie Verantwortung übernehmen, die wir nicht decken können. Das ist zurzeit unser Hauptproblem. Wir würden diese Eingriffe gerne weiter anbieten und haben auch nicht vor, sie ganz einzustellen. Wir pausieren nur vorübergehend, bis wir mehr Klarheit darüber haben, wie unsere Ärzte geschützt sind – auch wenn sie Beschnei- dungen durchführen.

Herr Müller, wie viele geplante Beschneidungen mussten Sie wegen des Kölner Urteils schon absagen?
Müller: Ungefähr fünf Eltern mit muslimischem Hintergrund, die ihren Sohn in unserem Krankenhaus beschneiden lassen wollten. Ich habe die Eltern vor dem geplanten Termin telefonisch kontaktiert, den Eingriff abgesagt und ihnen die Gründe dafür ausführlich dargelegt.

Wie reagieren die Eltern?
Müller: Sie sind betroffen und verzweifelt. Einige Beschneidungen mussten wir einen Tag vorher absagen. In den Familien waren nach deren Aussagen Feiern geplant, und die Eltern wissen nicht, wie sie weiter verfahren sollen. Ich habe ihnen die Hintergründe genau erklärt.

Was raten Sie ihnen?
Müller: Sie sollten abwarten und die Zirkumzision dann durchführen lassen, wenn die Kinder einwilligungsfähig sind. Das heißt, mit 16 oder 18 Jahren.

Fürchten Sie, dass Beschneidungen damit in die Illegalität abgedrängt werden?
Graf: Das ist sicherlich eine unserer Hauptüberlegungen, dass diese Operation, die jetzt unter optimalen medizinischen Bedingungen und von erfahrenen Chirurgen durchgeführt wird, die Eltern in der Not woanders hingehen lässt. Zum Beispiel in ihre Herkunftsländer, oder sie lassen ihre Kinder irgendwo in Berlin oder Deutschland »in einem Hinterhof« beschneiden. Das ist schon ein Problem.

Wie viele Zirkumzisionen haben Sie pro Jahr?
Müller: Wir haben etwa 150 Eingriffe pro Jahr. Der überwiegende Teil davon aus medizinisch indizierten Gründen. Etwa ein Drittel davon erfolgt aus religiösen Gründen.

Wie genau ist der Ablauf, wenn Eltern ihre Kinder beschneiden lassen möchten?
Müller: Die Eltern verabreden in unserer Sprechstunde einen Termin, bei der das Kind untersucht wird. Ist es gesund, erfolgt eine ausführliche Aufklärung über Vor- und Nachteile und Risiken einer Zirkumzision, die, wie bei jeder Operation, bestehen. Anschließend unterschreiben beide Elternteile eine Einverständniserklärung zur Operation.

Was bedeutet das Urteil, das mittlerweile rechtskräftig ist, für die Religionsfreiheit in Deutschland?
Graf: Es ist eine Katastrophe. Wir reden von einer religiösen Tradition, die uralt ist. Und wir sprechen auch von einem Aspekt, der als Prozedur nicht nur aus religiösen Gründen, sondern auch aus medizinisch-hygienischen Gründen sinnvoll ist und durchgeführt wird, mit und ohne religiösem Hintergrund. Sehr häufig in den anglo-amerikanischen Ländern auf Wunsch der Eltern.

Welche Reaktionen haben Sie in den vergangenen Tagen auf Ihre Ankündigung, Beschneidungen auszusetzen, bekommen?
Graf: Die Reaktionen sind sehr unterschiedlich. Einige Menschen werden erst jetzt aufmerksam, dass wir als Jüdisches Krankenhaus diese Eingriffe durchführen. ›So etwas tut man nicht‹, heißt es. Auch Juristen schreiben uns. Und Leute, die offen sagen, es sei Körperverletzung, Kinder zu beschneiden. Aus Israel und der jüdischen Gemeinde gibt es Rückmeldungen, die uns sagen, was wir für ›Schlappschwänze‹ seien, weil wir so schnell einknicken. Aber es geht hier nicht ums Einknicken. Es geht um eine Verantwortung, die wir unsere Ärzten, Mitarbeitern und auch unseren Patienten gegenüber haben. Wir werden versuchen, einen Weg zu finden, dass wir bald wieder unter ganz normalen Bedingungen hier diese Eingriffe anbieten können.

Was wünschen Sie sich von Seiten der Politik?
Graf: Eine klare Stellungnahme, dass dieses Urteil in Köln überarbeitungswürdig ist und von der bürgerlichen Mitte so nicht getragen werden kann.

Mit Prof. Dr. Kristof Graf, dem Ärztlichen Direktor und Chefarzt der Klinik für Innere Medizin, und Dr. Martin Müller, Oberarzt und Leiter der Rettungsstelle, sprach Katrin Richter.

Jüdisches Krankenhaus (JKB) Die Stiftung bürgerlichen Rechts hat ihren Campus im Berliner Stadtteil Mitte und ist akademisches Lehrkrankenhaus der Charité. Das JKB hat 300 Betten auf mehreren Fachabteilungen. Pro Jahr werden in der 1756 gegründeten Einrichtung über 20.000 Patienten stationär und ambulant versorgt.

www.juedisches-krankenhaus-berlin.de

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