Geschichte

»Wir waren so jung«

Michail Tkach (l.), Jahrgang 1938, lebt heute in Potsdam Foto: Uwe Steinert

Sechs Frauen und drei Männer, Jüdinnen und Juden, geboren zwischen 1930 und 1941 in der damaligen Sowjetunion: In großformatigen Aufnahmen porträtiert die Fotografin Varvara Smirnova neun Menschen, die die NS-Verbrechen überlebt haben und heute in Brandenburg zuhause sind. Die Ausstellung »Potsdamer Überlebende der Shoah« wird heute in der evangelischen Nikolaikirche am Landtag eröffnet und ist dort bis zum 30. August zu sehen.

Die Frauen und Männer, die überwiegend aus der heutigen Ukraine stammen, blicken meist ernst in die Kamera. Smirnova zeigt sie in Wohnräumen, auf dem Sofa, vor Gemälden und gerahmten Fotos. Aus ihren Erinnerungen erzählen die neun Potsdamerinnen und Potsdamer knapp auf Deutsch und Russisch auch in einer kleinen Broschüre. »Wir waren so jung«, fasst der Titel die Zeit von Verfolgung, Flucht und Überleben zusammen.

»Zwei ukrainische Polizisten und ein Deutscher nahmen meine Eltern mit«, erzählt dort Galina Karbievska, geboren 1940: »Sie fuhren nach Narodytschi, und auf dem Weg - etwa einen Kilometer hinter unserem Dorf - wurden meine Eltern von ukrainischen Polizisten erschossen. Es war der 22. September 1943.« Der Leichnam des Vaters sei dann ins Elternhaus gebracht worden. »Bis heute habe ich dieses Bild vor meinen Augen: Wie er da liegt in seinem schönen blauen Anzug und das Blut tropft herunter«, erzählt Karbievska: »Der Leichnam meiner Mutter durfte nicht nach Hause gebracht werden, weil sie Jüdin war.«

Michail Tkach, Jahrgang 1938, erzählt von der Flucht. Er erinnere sich an Verwandte, die zuerst mitgingen, aber dann beschlossen, umzukehren, weil der Großvater sich an den Ersten Weltkrieg und daran erinnerte, dass es damals keinen Kampf gegen die Juden gegeben habe, beschreibt er die Situation, die zum Verhängnis wurde: »Nach dem Krieg erfuhren wir, dass alle zurückgekehrten Verwandten von den Deutschen erschossen worden waren und nur der Großvater am Leben blieb, da er Tischler war und beim Bau der Kirche helfen musste. Aber 1943 wurden auch alle Bauarbeiter erschossen.«

Jahrzehnte später entschlossen sich die neun Frauen und Männer dennoch, nach Deutschland auszuwandern. Heute leben sie alle in Potsdam. Die Ausstellung erinnere daran, »dass unter uns Menschen leben, die Opfer der Schoa sind«, betonte Kulturministerin Manja Schüle (SPD): »Freunde, Bekannte, Nachbarinnen, deren Schicksale wir nie vergessen wollen.« Seit 30 Jahren hätten Juden und Jüdinnen aus der früheren Sowjetunion in Potsdam eine neue Heimat gefunden, die ihnen und ihren Kindern Zukunft verheiße, betonte Schüle: »Wir erfahren dieses Vertrauen als Anerkennung unserer Entschlossenheit, niemals wieder in unserem Land solche grauenvollen Verbrechen zuzulassen und aufkommendem Antisemitismus die Stirn zu bieten.«

Das Fotoprojekt, das vom brandenburgischen Kulturministerium mit einem Mikrostipendium zur Unterstützung von Kulturschaffenden in der Coronakrise unterstützt wurde, habe für sie auch eine persönliche Bedeutung, schreibt Varvara Smirnova in der Begleitbroschüre zur Ausstellung. Denn ihre Oma väterlicherseits sei Jüdin gewesen.

»Früher konnte ich nicht verstehen, warum die Juden immer wieder verfolgt werden und was das bedeutet - Jüdin zu sein«, schreibt sie: »Ich hatte nur die Erzählungen meiner Oma, die immer Angst hatte, offen darüber zu sprechen.«

Bis zum Ende ihres Lebens habe die Großmutter Albträume gehabt, betont die Fotografin, die aus St. Peterburg stammt und in Potsdam lebt: »Es ist wichtig, die Geschichten und Gesichter der Zeitzeugen zu zeigen, weil wir nur so verstehen können wie der Krieg uns alle beeinflusste und was wir daraus lernen können.« Das Projekt wurde auch von der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz unterstützt.

Die Ausstellung wird am Freitag, dem 30. Juli, um 15 Uhr eröffnet und bis zum 30. August gezeigt.

Antisemitismus

Gert Rosenthal: »Würde nicht mit Kippa durch Neukölln laufen«

Die Bedrohung durch Antisemitismus belastet viele Jüdinnen und Juden. Auch Gert Rosenthal sieht die Situation kritisch - und erläutert, welche Rolle sein Vater, der Entertainer Hans Rosenthal, heute spielen würde

 01.04.2025

Berlin

»Hans Rosenthal erinnert uns daran, dass jüdisches Leben zu Berlin gehört«

Der Regierende Bürgermeister: »Er überlebte die Schoa nur, weil ihn einige mutige Frauen aus Lichtenberg in einer Schrebergarten-Kolonie versteckten«

 01.04.2025

Magdeburg

Magdeburg erhält 800. Stolperstein

2007 wurde der erste Gedenkstein für den früheren Magdeburger Bürgermeister Herbert Goldschmidt verlegt

 31.03.2025

Berlin

Initiatoren halten an »Drei-Religionen-Kita« fest

Aufgrund von Sparmaßnahmen strich der Senat im vergangenen Dezember die Fördergelder

 31.03.2025

Todestag

Wenn Worte überleben - Vor 80 Jahren starb Anne Frank

Gesicht der Schoa, berühmteste Tagebuch-Schreiberin der Welt und zugleich eine Teenagerin mit alterstypischen Sorgen: Die Geschichte der Anne Frank geht noch heute Menschen weltweit unter die Haut

von Michael Grau, Michaela Hütig  31.03.2025

Berlin

Freundeskreis Yad Vashem: Michalski wird Geschäftsführer

In der neuen Position wolle er dazu beitragen, die herausragende Arbeit von Yad Vashem weithin sichtbar zu machen, sagt der bisherige Direktor von HRW Deutschland

 31.03.2025

Porträt der Woche

In der Rolle aufgehen

Nelly Pushkin hat Mathematik studiert – und ist Rebbetzin aus Leidenschaft

von Brigitte Jähnigen  30.03.2025

Buch

Die Zeit festhalten

Der Fotograf Stephan Pramme hat für die »Objekttage« des Jüdischen Museums Berlin Jüdinnen und Juden in Deutschland porträtiert. Sie zeigten ihm Erinnerungsstücke, die für ihre Familien- und Migrationsgeschichte stehen

von Katrin Richter  30.03.2025

Reportage

Rinderschulter und Pastrami

Im Berliner Westend eröffnen ungleiche Freunde die einzige koschere Fleischerei Deutschlands. Ein Besuch im Kälteschrank

von Mascha Malburg  30.03.2025