Child Survivor

»Wir sind niemals befreit worden«

Yoella Har-Shefi über ihr Leben nach der Schoa. Eine Rede in Berlin

von Yoella Har-Shefi  02.09.2014 08:50 Uhr

»Wir sind das letzte Hindernis, bevor die Schoa vergessen wird«: Yoella Har-Shefi Foto: Marco Limberg

Yoella Har-Shefi über ihr Leben nach der Schoa. Eine Rede in Berlin

von Yoella Har-Shefi  02.09.2014 08:50 Uhr

Bitte vergeben Sie mir. Vergeben Sie mir alle. Und glauben Sie mir, ich bin geistig gesund und recht begabt. Ich bin eine erfahrene Journalistin und Rechtsanwältin, und üblicherweise benehme ich mich normal. Ich habe auch kein Problem damit, in der Öffentlichkeit zu sprechen. Heute fühle ich mich sehr angespannt, sehr nervös. Es fällt mir schwer, die richtigen Worte zu finden. Meine Worte lassen mich im Stich. Ich spreche nicht in meiner eigenen Sprache, das ist nämlich Hebräisch. Und bitte denken Sie daran: Ich wurde in Warschau geboren. Mein Polnisch war perfekt. Es ist heute nicht mehr meine Sprache, es ist nicht mehr meine Muttersprache.

Ich habe in Ihren Kongressunterlagen gelesen, ich hätte meine Eltern in Treblinka »verloren«. Meine Eltern waren kein Schlüsselbund! Ich habe sie nicht »verloren«, sie wurden in Treblinka ermordet. Sehen Sie uns an. Sehen Sie uns an, meine Brüder und Schwestern, die wir überlebt haben. Sehen Sie uns an, ehrenwerte Gäste! Ich weiß nicht, ob die Vertreter des Bundestages und andere Gäste noch hier sind, oder ob sie inzwischen gegangen sind. Aber Sie alle sehen aus, als seien Sie erschöpft, müde, gelangweilt und schon halb eingeschlafen. Und das, nachdem nur einige Stunden lang über die Schoa gesprochen wurde.

Normalität Können Sie verstehen, was es bedeutet, sechs Jahre lang, in jeder Sekunde dieser sechs Jahre, zu sterben und zu leben, zu sterben und zu leben – die Schoa zu leben? Uns gestattete man nicht den Luxus, erschöpft oder gelangweilt zu sein. Heute, in diesem Saal, haben wir gesprochen – wir alle, all jene, die vor mir geredet haben –, und zwar so sanft, so freundlich, als hätten wir über unsere Pläne für den nächsten Samstag gesprochen. Glauben Sie mir, ich bin normal. Aber heute weigere ich mich, die »Edle Wilde« zu sein. Ich will die Wilde sein!

(Sie stößt einen lauten Schrei aus.)

Das ist es, was wir alle ständig unterdrücken, wogegen wir kämpfen, in jedem Augenblick unseres Lebens seit 1945. Wir sind niemals befreit worden. Wir haben nicht überlebt. Wir konnten nie unsere persönlichen Hoffnungen verwirklichen. Denn einen großen Teil unserer Talente, unserer Kräfte, unserer Fähigkeiten mussten wir darauf aufwenden, diesen Schrei zu unterdrücken, all das Grauen zu unterdrücken, die Erinnerungen, die Todesängste, die uns nachts plagen, um das Spiel der normalen Menschen mitspielen zu können. Zu denen wir nicht gehören. Jeder, absolut jeder von uns ist ein Mensch mit heroischen Kräften.

Wir bitten nicht um Hörgeräte, wir bitten nicht darum, dass uns jemand die Windeln wechselt. Wir fordern unser Recht ein, nachdem uns der erste Teil unseres Lebens geraubt wurde, wenigstens das letzte Kapitel unseres Lebens ehrenvoll und in Würde verbringen zu können.

Würde Ich rede schon viel zu lange. Ich möchte den Leuten, die abwesend sind, denn ich nehme an, sie sind gegangen ... ich möchte den Deutschen erklären, was unsere Forderungen bedeuten. Wir betteln nicht um Spenden. Wir erpressen die deutsche Nation nicht. Wir fordern keine Entschädigung, die uns schon längst ausgezahlt wurde. Wir wurden niemals für unsere verlorene Kindheit entschädigt, denn das Thema unserer verlorenen Kindheit wurde nie angesprochen. Nicht deswegen, weil irgendjemand uns ein weiteres Mal hätte verletzen wollen. Sondern weil die Erwachsenen damit beschäftigt waren, ihr Leben wiederaufzubauen.

Und wir? Wir Kinder ... Glauben Sie, wir sind nur einmal gestorben, als uns unsere Kindheit genommen wurde? Wir sind zweimal gestorben. Die Befreiung war ein zweiter Tod für uns. Wir hatten nie wirklich gelernt, wie wir während der Schoa existieren können, aber sechs Jahre sind immerhin eine lange Zeit. Wir haben gelernt, uns unsichtbar zu machen. Wir haben gelernt, gleichzeitig da zu sein und nicht da zu sein.

Letzten Endes haben wir das alles gelernt. Und als wir während der Schoa endlich die Kunst des Überlebens gemeistert hatten, da wurden wir schon wieder in eine Existenz geworfen, die wir nicht kannten. Wir wussten doch gar nicht, wie wir uns im normalen Leben zurechtfinden sollten. Wir wussten nicht, wie wir jemandem direkt in die Augen sehen konnten. Wir wussten nicht, wie man sich als normales menschliches Wesen verhält. Und da war niemand – kein Vater, keine Mutter –, der es uns hätte beibringen können. Konnten wir einfach unsere Kindheit fortsetzen? Nein, denn im Alter von fünf, zehn, elf, zwölf Jahren waren wir bereits alte Leute.

Botschaft Bitte, bitte, wer immer heute hier ist und den Deutschen meine Botschaft bringen kann: Wir, die Überlebenden, die im Holocaust Kinder waren, sind das letzte Hindernis, bevor die Schoa der Vergessenheit anheimfällt, zu einer unbedeutenden Fußnote der Geschichte wird. Von uns kann man etwas lernen, das der gesamten Menschheit zugutekommt. Und wenn Sie uns, den Menschen, die im Holocaust Kinder waren, ermöglichen, das letzte Kapitel unseres Lebens in Würde zu verbringen, dann verwirklichen Sie einen Teil des Gelernten an unserer Generation. Das ist etwas, das kein Geldbetrag allein erreichen kann – wohl aber in Verbindung mit der Anerkennung unseres beispiellosen Schicksals und unserer entsprechenden Bedürfnisse.

Ein letzter Satz: Ich weiß, dass wir es heute nicht mehr mit der Generation von Deutschen zu tun haben, die den Holocaust verbrochen hat. Ich weiß und ich bin dankbar dafür, dass wir es mit einer neuen Generation von Deutschen zu tun haben, mit einem neuen Deutschland. Und was wir Ihnen anbieten – wir bitten nicht darum, wir bieten es an –, ist keine weitere Entschädigungszahlung; was wir tun, ist, die Hand auszustrecken und Ihnen vorzuschlagen, Ihnen die Möglichkeit zu bieten, unsere Partner zu werden und gemeinsam dieses Kapitel hinter uns zu lassen.

Ich danke Ihnen.

Information
Yoella Har-Shefi wurde 1935 in Warschau geboren. Im Alter von sechs Jahren wurde sie mit ihren Eltern aus dem Warschauer Ghetto geschmuggelt, versteckte sich mit ihrer Tante in den Wäldern und verbrachte drei Jahre in einem katholischen Waisenhaus, wo sie ihre jüdische Herkunft verbergen musste. Sie überlebte den Holocaust, ihre Eltern wurden in Treblinka ermordet. 1946 gelangte sie mit ihrer Tante, die aus dem Konzentrationslager hatte fliehen können, per Schiff nach Eretz Israel. Über die Überfahrt berichtete der amerikanische Journalist Isidor Feinstein Stone in seinem Buch Underground in Palestine. Stone schrieb über die Elfjährige: »Sie war clever, scharfzüngig und altklug und schrieb polnische Gedichte.«

Yoella Har-Shefi studierte an der Hebräischen Universität Jerusalem und an der Universität Tel Aviv. Bei der israelischen Tageszeitung Yedioth Ahronoth arbeitete sie als Sonderkorrespondentin. Während des Jom-Kippur-Kriegs 1973 war sie Kriegsberichterstatterin. Außerdem engagierte sie sich früh in der israelischen Friedensbewegung. In den Zeitungen Al Hamishmar, Hadashot und Haaretz hatte sie eigene Kolumnen.

Seit 1991 ist Har-Shefi als Rechtsanwältin tätig und setzt sich für Menschenrechte ein. Sie ist Autorin mehrerer Bücher, darunter Beyond the Gunsights: One Arab in the Promised Land (1973) und The Selling of Israel (1982). Bisher nur auf Hebräisch erschienen ist ihr jüngstes Buch Nicht in den Schlagzeilen, eine kritische Analyse der israelischen Presse.

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