Herr Seelig, vor zwei Jahren haben Sie mit weiteren Kantorinnen und Kantoren den Verband Jüdischer Kantoren gegründet. Nun findet in Mannheim die erste Konferenz statt. Was steht auf der Agenda?
Es ist in der Tat unsere erste Kantoren-Konferenz in Deutschland, die letzte wurde vor 1939 abgehalten. Ziel des Verbandes ist die Unterstützung jüdischer Kantoren, sowohl in ihrem religiösen Amt als auch in ihren beruflichen Angelegenheiten. Wir sind eine Berufsgenossenschaft von Kantoren und Kantorinnen aller jüdischen Denominationen, von orthodox bis liberal. Mit dieser Konferenz haben wir vor, uns zu präsentieren, von- und miteinander zu lernen und ein generelles Kennenlernen zu gestalten. Die Konzerte werden offen für das Publikum sein, und wir hoffen, dass viele Gemeindevertreter sie besuchen. Unser Ziel ist es auch, die Szene der Synagogalmusik in Deutschland wiederzubeleben und ihr eine neue Plattform zu bieten.
Obwohl Sie alle denselben Beruf ausüben, haben Sie sich noch nie getroffen?
Manche kennen sich persönlich, aber jede Gemeinde ist sehr unabhängig, was die Kantoren angeht. Wir sehen bei unseren Rabbinerkollegen, sowohl bei den orthodoxen als auch den liberalen, dass sie sich den beiden Rabbinerkonferenzen ORD oder ARK anschließen und Tagungen anbieten. So kommen sie in Austausch, können ihre Interessen vertreten und relevante Themen für ihren Beruf besprechen. Und das streben wir auch an. Wir wollen uns treffen, voneinander lernen und miteinander musizieren.
Wie viele Kantoren haben sich zu Ihrer Konferenz angemeldet?
Bisher sind es mehr als 25.
Die Konferenz geht über drei Tage. Was steht auf dem Programm?
Es haben zwei Kantoren und ein Experte für jüdische Musik und Geschichte aus den USA zugesagt. Sie werden uns neue Blickwinkel bieten. Es sind die liberale Kantorin Joyce Rosenzweig, der orthodoxe Kantor Gideon Zelermyer und Professor Marc Kligman. Wir hoffen, dass auch Eli Schleifer kommt, der jahrelang das Kantorenseminar in Potsdam geleitet hat. Es sind mehrere Vorträge und Meisterkurse geplant, sowohl als Privatunterricht als auch öffentlich. Ferner werden wir uns mit Nussach beschäftigen, den Tonarten und Motiven, die zum jüdischen Gebet gehören. Auch jiddisches und Latino-Repertoire wollen wir uns erarbeiten.
Wird es Konzerte geben?
Ja, am Montag- und Mittwochabend im Samuel-Adler-Saal der Jüdischen Gemeinde Mannheim und am Dienstag im Zentrum der Israelitischen Religionsgemeinschaft Württembergs (IRG) in Stuttgart. Jeder Kantor wird mindestens bei einem der drei Konzerte auftreten – es sei denn, er oder sie möchte das nicht. In Stuttgart wird das Konzert dem kürzlich verstorbenen Kantor Nikola David gewidmet sein.
Erhalten Sie eine finanzielle Förderung für die Konferenz?
Ja, vom Zentralrat der Juden, vom Oberrat der Israeliten Badens, von der Elsbach-Stiftung und von der amerikanischen Mickey Katz Stiftung. Die Mannheimer Gemeinde stellt uns ihre Räume und Sicherheitskräfte zur Verfügung und die IRG Württembergs finanziert das Konzert in Stuttgart. Es ist mit hohen Kosten und mit viel Aufwand verbunden, eine dreitägige Konferenz zu gestalten.
Der Kantorenverband startete vor zwei Jahren lediglich mit einer Handvoll Interessenten …
Wir waren acht oder neun. Inzwischen haben sich etwa 30 angeschlossen.
Es gibt also großes Interesse an dem Verband. Was bewegt Kantoren dazu, sich anzuschließen?
Wir kennen einander zwar nicht besonders gut, sind aber neugierig aufeinander. Uns eint auch die Begeisterung für unsere Arbeit. Jede Gemeinde hat eine eigene Liturgie, für die sich der Kantor entsprechend fortbilden muss. Und: Wir stehen alle vor den gleichen Herausforderungen wie dem Umgang mit Rabbinern, dem Vorstand und den Gemeindemitgliedern. Dazu kommen noch die Themen Aufgabenverteilung und Seelsorge, die wir auch leisten. Und das sind nur die paramusikalischen Aspekte.
Und von der Musik aus betrachtet?
Es gibt natürlich auch musikalische Fragen. Wir haben eine rege WhatsApp-Gruppe. Da können alle fragen, wo sie eine bestimmte Melodie oder einen besonderen Text finden. Dieses Jahr beispielsweise: Wie gestaltet man zum ersten Mal eine Gedenkveranstaltung für den 7. Oktober? Welche Ideen gibt es, welche Gebete? Welche Melodien? So ein Austausch ist notwendig.
Viele Kantoren sind Freiberufler, denn etliche Gemeinden können sich keine Festangestellten leisten.
Viele Gemeinden wollen ihrem Kantor keinen festen Vertrag geben. Das ist ein Thema, das wir bei der Konferenz besprechen. Bei kleinen Gemeinden ist es tatsächlich nicht einmal eine Überlegung, überhaupt jemanden zu engagieren. Aber ich freue mich, dass sich da etwas ändert, seitdem es uns gibt.
Der Verband bietet nun das Projekt »Call a Kantor« an. Meinen Sie diese Neuerung?
Allein zu den Hohen Feiertagen haben sich bei uns fünf oder sechs Gemeinden gemeldet, teilweise auch extrem kurzfristig. Sie fragen uns, ob wir jemanden vermitteln könnten. Die Fälle treten auch ein, wenn auf einmal ein Kantor krank ist oder ausfällt. Ich freue mich, dass wir dabei behilflich sein können.
Konkurriert dieses Angebot mit einer Festanstellung?
Es ist in der Tat unser Wunsch, dass Gemeinden, die es sich leisten können, einen festen Kantor haben. Aus unserer Erfahrung ist es viel angenehmer für die Mitbeter, wenn sie wissen, dass jemand Bekanntes amtiert, dass sie auch die Melodien kennen und an seine oder ihre Stimme gewöhnt sind. In einer Synagoge möchte man sich heimisch fühlen. Die Menschen kommen nicht zum Gottesdienst, um coole Musik zu hören. Natürlich ist die Musik schön, und sie muss qualitativ gut sein. Aber wir wiederholen uns hier häufig. Ein Gottesdienst variiert nicht viel. Die Beter wünschen sich etwas Vertrautes.
Sie sind ja auch eine Anlaufstelle.
Ja, tatsächlich. Bei Rabbinerinnen und Rabbinern ist es klar: Wird man ordiniert, ist man automatisch Mitglied in einem Rabbinerverband. Bei uns ist es nicht so eindeutig, denn es gibt viele, die kein Studium absolviert haben. Etliche sind mit der Tätigkeit aufgewachsen und haben viele Erfahrungen und Kenntnisse sammeln können, manche besuchen Abendkurse, um die Kenntnisse zu erwerben.
Aber ist es nicht gerade schön, dass es so viele unterschiedliche Ausbildungsmöglichkeiten gibt?
Ganz recht, teilweise sind die besten Kantoren – und auch die größten auf der Welt – diejenigen, die nicht studiert haben, sondern dazu berufen sind.
Ist es unter diesem Gesichtspunkt schwierig zu entscheiden, wer beim Verband Mitglied werden kann?
Ja, das macht unser Leben ein bisschen problematischer, weil wir nicht einfach nur auf Studenten zurückgreifen können. Wir müssen die Menschen finden. Deshalb sind wir offensiv vorgegangen und haben uns bei mehr als 100 Gemeinden gemeldet.
In Stuttgart wird das Konzert im Gedenken an Nikola David stattfinden, der vor einigen Monaten Opfer einer Gewalttat wurde. Sein ehemaliger Shalom-Chor aus Berlin wird auch nach Mannheim reisen und dabei sein. Singen alle Kantoren bei diesem Konzert?
Bei dem Konzert für Nikola finden wir es sinnvoll, wenn die Kantoren singen, die mit ihm gearbeitet haben, die ihn kannten.
Ist es eigentlich für Kantoren oder Kantorinnen etwas Besonderes, vor anderen Kantoren oder Kantorinnen zu singen?
Unser Austausch ist rege. Wir werden bei der Konferenz Lehrer haben, die damit beauftragt sind, uns kritisches Feedback zu geben, was Kollegen natürlich manchmal ungern tun. Aber es ist auch interessant, Input von anderen Kantoren zu bekommen. Ich finde Feedbackrunden immer sehr aufschlussreich. Ich weiß nicht, ob es bei unseren Meisterkursen so etwas geben wird, aber jedenfalls haben wir professionelle Lehrkräfte dabei.
Sind Sie manchmal vor einem Gottesdienst aufgeregt?
Nein. Heute nicht mehr. Ich war beim ersten Gottesdienst, den ich gestaltet habe, etwas nervös. Leider bin ich nicht in der Synagoge aufgewachsen, sondern musste alles lernen. Ich habe es nicht mit der Muttermilch aufgesogen. Als ich zum ersten Mal einen Synagogenchor dirigiert habe, war ich schon aufgeregt. Das war noch vor meiner Kantorentätigkeit. Ich fürchtete, dass die Reihenfolge geändert werden und ich durcheinanderkommen würde – was aber nicht der Fall war.
Mitglied Ihres Verbandes können nur Kantoren werden – aber spenden kann jeder.
Ein paar Spenden erhielten wir zur Gründung und würden uns über weitere natürlich sehr freuen!
Mit dem Kantor und Vorsitzenden des Verbands Jüdischer Kantoren sprach Christine Schmitt.