»Wir waren nicht dabei, als die Synagogen brannten, wohl aber brennen diese Bilder immer in uns.« Am Vorabend des Jahrestages der Pogrome erinnerte Dieter Graumann, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, in der Gedenkstunde der Stadt Frankfurt an den 9. November 1938. An jenem Tag habe sich eine »Detonation von Sadismus, Vandalismus, Mordlust und Menschenfeindlichkeit« ereignet. Und doch sei das nur »ein Bruchteil des Terrors, der Schrecken und Verbrechen, die später folgen sollten«. Die Erinnerung an diese Ereignisse bleibe »Aufgabe und Auftrag von uns allen zusammen«, appellierte Graumann an Hunderte geladener Gäste in der Frankfurter Paulskirche.
Schimpfwort Scharf kritisierte Graumann die Gleichgültigkeit, mit der viele Deutsche heutigen antisemitischen Ausfällen begegneten. Wenn etwa Kinder einander auf dem Schulhof oder Sportplatz mit dem Schimpfwort »Jude« beleidigten oder wenn, wie Ende August in Berlin geschehen, ein Rabbiner vor den Augen seiner Tochter krankenhausreif geschlagen und aufs Übelste antisemitisch beschimpft würde, dann müsste das doch alle alarmieren – »und tut es freilich kaum«. Dabei stelle sich doch spätestens seit dieser brutalen Attacke die Frage, ob schon wieder »das bloße Judesein als Provokation gelte und daher besser verborgen werden sollte«.
Doch manchmal kämen die Angriffe auch aus Zusammenhängen, in denen man sich zuvor sicher wähnte, fuhr der Zentralratspräsident fort und spielte damit auf das Anti-Israel-Gedicht von Günter Grass an, das er als »Dokument von Hass und Hetze gegen den jüdischen Staat« bezeichnete. Mit diesem Text »redete Grass Blech und trommelte falsch«, vor allem aber habe er damit dem Verstärken und Ausleben von Vorurteilen eine Art literarische Nobilitierung erwiesen. Ebenso wie Martin Walser in seiner Paulskirchenrede vor 14 Jahren, als ihm der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels verliehen wurde.
Doch ließen sich die Juden in Deutschland davon nicht beirren und auch »nicht in ihrer Zuversicht beschneiden«, betonte Graumann: »Ein Judentum in Hinterzimmern wird es nicht geben«, versprach er. Vielmehr werde ein neues Judentum in Deutschland aufgebaut, mit frischer und positiver Perspektive, allen historischen Katastrophen, allen aktuellen Verwunderungen und Verwundungen zum Trotz.
»Jetzt erst recht!«, zeigte sich der Präsident des Zentralrats kämpferisch. Die Kraft für diesen Aufbau einer neuen jüdischen Gemeinschaft schöpfe er persönlich aus »unserer besonderen Geschichte«. Seit mehreren Tausend Jahren hätten immer wieder andere Völker versucht, die Juden zu zerstören. »Aber wir sind immer noch da!«
Kontinuität Diese singuläre Kontinuität gebe den Juden Kraft und Rückhalt zum Überleben. Und im Bewusstsein seiner einzigartigen Tradition und Fundamente könne das Judentum seine positiven Dimensionen »mit Energie, Elan und Enthusiasmus« nach außen tragen und sich kreativ an allen gesellschaftlichen Debatten beteiligen.
Frankfurts Oberbürgermeister Peter Feldmann (SPD) hatte in seiner Ansprache die Ereignisse im November 1938 minutiös und faktenreich analysiert. Das Novemberpogrom sei ein Verbrechen gewesen, das »ein ganzes Volk endgültig zu Mitwissern und viele auch zu Mittätern« gemacht habe. Gleichzeitig erinnerte Feldmann an den englischen Konsul Robert T. Smallbone. Dieser hatte damals mit Entsetzen beobachtet, wie in Frankfurt nach der Zerstörung der Synagogen mehrere Tausend Juden geschlagen, durch die Stadt getrieben, verschleppt und in Züge verladen worden waren.
Augenzeuge Spontan habe er daraufhin vielen Zuflucht in seinem Konsulat angeboten, bis die Verhaftungswelle vorüber war. Und auch später stellte er zahlreichen jüdischen Flüchtlingen Transitvisa aus, damit sie Deutschland verlassen konnten. Anschließend dankte Feldmann in sehr persönlichen Worten Trude Simonsohn, dem Ehrengast dieser Veranstaltung, weil sie seinem Vater – auch er war ein Überlebender der Schoa – vor vielen Jahrzehnten geholfen hatte, in Frankfurt heimisch zu werden.
Simonsohn fand die bewegendsten Worte an diesem Tag. Die 91-Jährige, die 2010 mit dem Ignatz-Bubis-Preis ausgezeichnet wurde, schilderte, wie sie als Mitglied der Zionistischen Jugend in Tschechien in Einzelhaft geriet, später nach Theresienstadt und Auschwitz deportiert wurde und wie kleine, zufällige »Mosaiksteine des Schicksals« ermöglichten, dass sie das alles überleben konnte, als Einzige aus ihrer Familie. Außerdem gestand sie, sich selbst schuldig zu fühlen, weil sie damals, wenn auch vergeblich, zu erwirken versucht hatte, dass nicht ihre Mutter, sondern jemand anderes von Theresienstadt nach Auschwitz deportiert würde.
»Damit habe ich mir die Hände schmutzig gemacht«, sagte sie. »Aber man kann nicht mit sauberen Händen durch die Diktatur kommen.« Auch deswegen wolle sie ihre Lebensgeschichte immer wieder erzählen: »Ich werde das bis zu meinem Ende tun«, versprach sie. »Das bin ich den Toten schuldig.«