Der einzige Grund, warum er sich ein wenig davor gefürchtet hat, 100 Jahre alt zu werden – »am besten sogar 120« –, war die Vorstellung, wie viele Dankesbriefe er dann für die vielen Glückwünsche zu schreiben hätte. Bei einem kurzen Gespräch am Telefon, kaum eine Woche her – das Hörgerät ließ es mal zu, mal nicht –, sprach er vom Ende seiner »Karriere«, womit er meinte, dass er Termine, die er Schulen zugesagt hatte, nicht mehr wahrnehmen konnte.
»Ich muss sie streichen«, meinte er sachlich; ein Tonfall, der, wer ihn ein bisschen kannte, aufhorchen ließ. Als Zeitzeuge vor Zigtausenden von Menschen zu sprechen, war Max Mannheimer seit Mitte der 80er-Jahre zur Verpflichtung geworden. Sie war es bis zum Schluss.
Mit tröstenden Worten, weil eben alles doch immer mühsamer wurde, konnte er nichts anfangen, stellte sie schnell als Verlegenheit oder pure Höflichkeit bloß, sorgte dann lieber selbst für ein wenig Zuversicht: »Aber ein bisschen leben möchte ich schon noch.« Darauf folgte noch schnell ein jüdischer Witz. Schließlich der Abschied: »Hat mich gefreut.« – »Mich auch.« – »Was gibt es Schöneres, als wenn sich zwei freuen!«
Überleben Dass Max Mannheimer Zeitzeuge für das Verbrechen der Nationalsozialisten an den Juden geworden ist, der Zeitzeuge schlechthin, lässt keine einfache Kausalität zu. Wer ihn vor Kindern und Jugendlichen, vor großem wie kleinem Publikum erlebt hat, erkannte in ihm den »idealen Zeitzeugen«. Er habe »Charaktereigenschaften, Temperament und Anlage, die ihn zum Aufklärer prädestinieren: Humor, Leidenschaft und nimmermüde Freundlichkeit«, wie es der Berliner Historiker Wolfgang Benz einmal ausdrückte. Schulklassen brachte Mannheimer schnell zum Schmunzeln, wenn er erzählte, was für ein »Schlingel« und »fauler Schulbub« er gewesen ist. Von da an gehörte ihm ihre Aufmerksamkeit. Und das seit über 30 Jahren.
Auf einem Typoskript von 66 Seiten, das die KZ-Gedenkstätte Dachau mit dem Zugangsdatum »Mai 1976« verwahrt hielt, hatte ein Mann ohne Angabe seines Namens seine Überlebensgeschichte als Jude während der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft niedergeschrieben. Der Autor dieses hingehämmerten und äußerst sachlichen Textes wurde rasch ausfindig gemacht: Es war Max Mannheimer, der diese Schilderung in einer seiner Lebenskrisen bereits 1964 festgehalten hatte, bestimmt für seine Tochter Eva.
biografie Geboren wurde Max Mannheimer 1920 im mährischen, überwiegend deutschsprachigen Neutitschein in der Tschechoslowakei. Er besucht die Handelsschule und will Kaufmann werden, wie der Vater. Nach der Besetzung des Sudentenlandes im Oktober 1938 siedelt die Familie nach Ungarisch Brod in Südmähren über. »Am 24. Januar ist es dann soweit. Die Vorladung des Sicherheitsdienstes, die wir in den Händen halten, beendet die monatelange Spannung. Wir haben uns am 27. Januar morgens in einer Schule in der Nähe des Bahnhofs einzufinden«, erinnert sich Mannheimer in seinem im Jahr 2000 veröffentlichten Späten Tagebuch.
Es folgen Theresienstadt, Auschwitz-Birkenau, Warschau, Dachau. Die bloße Aufzählung der Orte wird zum Titel von Max Mannheimers Text, der in der ersten Ausgabe der »Dachauer Hefte« im Jahr 1985 publiziert wird. An der Rampe von Auschwitz-Birkenau sieht Max Mannheimer seine Eltern Jakob und Margarethe, seine Schwester Käthe und seine junge Frau Eva zum letzten Mal. Zwei seiner Brüder, Erich und Ernst, werden ebenfalls von den Nationalsozialisten ermordet. Nur Max und der jüngste Bruder Edgar überleben. In den 50er-Jahren beginnt Max Mannheimer damit, gegen das Grauen anzumalen: blutig-rot-schwarze Tupfen, schlierige weiße und orangefarbene Ölsträhnen. Das Malen mit Acryl und Öl hat ihm geholfen, den Weg gezeigt aus Schmerz und Depression, wie er es einmal beschrieb.
liebe Nach der Befreiung war er zunächst in seine Heimatstadt Neutitschein, das von da an Nový Jicín heißt, zurückgekehrt. Er heiratete die Widerstandskämpferin Elfriede Eiselt, zog mit ihr und dem gemeinsamen Töchterchen Eva nach München, wo »Fritzi« bis 1960 für die SPD im Stadtrat saß. Wenige Jahre später stirbt Elfriede Eiselt, Max Mannheimer heiratet ein drittes Mal: Grace Cheney, eine Amerikanerin. 1966 kommt Sohn Ernst zur Welt. Ende 1993 stirbt Max Mannheimers Bruder Edgar, der als Galerist in Zürich gelebt hatte, im Jahr 2010 seine Frau Grace.
Hingehämmerte Lebensstationen hinterlassen Spuren. Alles, was nach 1945 in Max Mannheimers Leben passiert ist, weiß sich nicht zu lösen von den Jahren davor. Die Schoa war Teil seiner Identität, die Nummer auf dem Arm Teil seines Körpers. Die Verpflichtung, zu erzählen, um zu warnen, ist das Gegenteil von einem frei gewählten Akt. Im Vortrag haben die Erinnerungen dem Vortragenden zu folgen. Zurück in den eigenen vier Wänden, ist es genau umgekehrt: Die Erinnerungen übernehmen das Kommando. Wie es Max Mannheimer, mit sich alleine gelassen, gegangen ist, wissen nicht sehr viele.
In seinem netten Häuschen in Münchens Osten hatte er in den letzten Jahren immer jemanden um sich gehabt, Betreuerinnen in Kittelschürzen, deren Sprachen aus dem Osten er verstand und die ganz schnell da waren, wenn er nach ihnen rief. Pünktlich und gerichtet saß er da, im Anzug, gut aussehend, mit Weste unterm Jackett und Schnittchen auf dem Teller. Wenn man mit ihm redete über Fußball, den er liebte, die Kunst, die Literatur, nahm man die geschmackssicheren wie unkonventionellen Bemerkungen eines Autodidakten mit nach Hause wie einen Korb voll guter Dinge.
In den letzten Jahren machten die Knie nicht mehr mit. Max Mannheimer saß im Rollstuhl, kein Grund, Termine auszulassen. Er hatte seinen Terminkalender und außerdem »Schwester Elija« vom Kloster Karmel Heilig Blut, das auf dem Gelände des früheren Konzentrationslagers Dachau steht. Schwester Elija »managte« ihn, ihr vertraute er, ihr Wort galt ihm etwas.
Dachau Max Mannheimer hat es geschafft, dass mit Angela Merkel die erste Bundeskanzlerin die Gedenkstätte Dachau besuchte. Im Mai des vergangenen Jahres nahm sie an der Gedenkveranstaltung »70 Jahre Befreiung KZ Dachau« teil, ist mehrere Stunden geblieben, saß neben ihm. »Wir sind ihm zu Dank verpflichtet«, mit diesen Worten würdigte die Bundeskanzlerin Mannheimer.
Wenn Max Mannheimer etwas bewegte, dann bewegte ihn das selbst beinahe am meisten. Seit 1990 war er Präsident der Lagergemeinschaft Dachau, seit 1995 Vizepräsident des Internationalen Dachau-Komitees. Die vielen Ehrungen, die Max Mannheimer erhalten hat, wusste er zu nehmen, über manche staunte und lachte er gleichzeitig.
Dass eines seiner Hinterglasbilder vergangenes Jahr seinen Weg ins Schlossmuseum von Murnau gefunden hat, in unmittelbare Nachbarschaft von Kandinsky und Chagall, ehrte und freute ihn sehr. Seine Schlagfertigkeit büßte er darüber nicht ein. Nachdem der Murnauer Bürgermeister bei der Ausstellungseröffnung ziemlich lange geredet hatte, erlaubte sich Max Mannheimer anzuschließen: »Weil mein Hörgerät nicht funktioniert, habe ich leider nicht gehört, was der Herr Bürgermeister gesagt hat. Ich bin mir aber sicher, er hat übertrieben.«
Seine Bücher signierte Max Mannheimer gerne und mit großem Stolz, schrieb seinen Namen auf Deutsch und darunter auf Hebräisch. Seine Bilder unterzeichnete er im Gedenken an seinen Vater mit seinem Künstlernamen »ben-jakov«. Die Werke zeugen davon – viel Dynamik, viel Leuchtkraft –, dass Max Mannheimer auch ein bedeutender Künstler war, was manchmal in Vergessenheit zu geraten droht.
schulen Max Mannheimer fühlte sich bis in seine letzten Tage verantwortlich. Er fühlte sich in einem Maße verantwortlich für die – kein schönes Wort – Zeitzeugenschaft der Überlebenden, dass es schmerzlich berührte. Beinahe schülerhaft meldeten sich gelegentlich Überlebende bei ihm, um zu berichten, wie fleißig sie in den Schulen unterwegs gewesen waren.
Wenn Max Mannheimer auf die Minute genau pünktlich mit seinem Rollstuhl bei Veranstaltungen auftauchte, dann hatte man jedes Mal das Gefühl, dass für ein paar Sekunden alle Umtriebigkeit aussetzte, um der Hochachtung vor ihm Platz zu machen. Überall wollte er Herzen erobern. Wollte umarmen und umarmt werden. Briefe beantwortete er postwendend.
Es gibt Bücher von und über Max Mannheimer, Filme, Kunstwerke. Jetzt erinnern sie daran, dass er nicht mehr da ist. Am vergangenen Freitag ist der große Versöhner, Zeitzeuge und Künstler im Alter von 96 Jahren in München gestorben.