Erez ist noch ganz außer Atem vom Treppensteigen. Mit einem Seufzer setzt er sich auf einen lila Stuhl im großen Saal des Centrum Judaicum und reibt sich seine durchgefrorenen Hände: »Es ist so unglaublich kalt in Berlin – ich trage zwei Pullover.« Der 17-Jährige aus Aschkelon ist einer von zwölf Jugendlichen, die Schimon Peres auf seinem Deutschlandbesuch begleiten. Erez Menashe ist zum ersten Mal in der Stadt und erwartete wie viele andere am Montagabend die Rede des israelischen Staatspräsidenten vor 200 geladenen Gästen der Jüdischen Gemeinde mit Spannung. Schließlich hat der Gast den Gemeindebesuch noch vor alle offiziellen Treffen gesetzt.
Ganz unbemerkt ging dieser Termin jedoch nicht an Berlins Mitte vorbei. Abgesperrte Fahrradständer und absolutes Halteverbot in der Oranienburger Straße kündigten den Besuch schon am Abend zuvor an. Selbst der Weg unmittelbar vor dem Haus wurde für Passanten gesperrt. »Es ist sehr gespenstisch«, sagte ein Fußgänger, der neben Polizeiwagen stand, auf dessen Dach ein maskierter Scharfschützer durch ein Visier schaute.
Oben im großen Saal warteten aufgeregte Gemeindemitglieder auf Schimon Peres, Zentralratspräsidentin Charlotte Knobloch und die Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, Lala Süsskind. Unter den Gästen auch Deidre Berger, Direktorin des Berliner Büros des American Jewish Committee (AJC). Sie bewertete den Gemeindebesuch als eine Anerkennung jüdischen Lebens in Deutschland. Präsidiumsmitglied Sergey Lagodinsky erwartete eine solche formale Anerkennung nicht – ihm reichte der Besuch völlig.
Ganz locker nimmt es eine Schülerin der Jüdischen Oberschule Berlin, die an diesem Abend mit dem Chor ein Medley aus israelischen Liedern sang: »Ich bin gar nicht so aufgeregt, es ist fast wie ein normaler Auftritt.«
Empfang Doch bevor es jubelnden Applaus für die Chorkinder geben sollte, wurde Peres mit tosendem Beifall und Zurufen empfangen. Der 86-Jährige wirkte freundlich, ein wenig müde und hörte der Rede von Lala Süsskind aufmerksam zu. Süsskind würdigte die »wohltuende Geste, dass Israel nun soweit ist, Juden in Deutschland als echte Partner wahrzunehmen und ihnen auf Augenhöhe zu begegnen«. Sie betonte, dass Juden in Deutschland angstfrei leben und ernst genommen werden, »was uns ermöglicht, unsere Rolle als Unterstützer Israels in der deutschen Öffentlichkeit zu erfüllen«. Ohnehin würden manche Deutsche meinen, ihr Staatspräsident sei nicht Horst Köhler, sondern Schimon Peres, fügte sie hinzu.
Im gleichen Tenor äußerte sich Charlotte Knobloch. Nach der hebräischen Begrüßung betonte sie, dass Deutschland für die Juden nicht länger Übergangsstation, sondern mehr und mehr zu einem Zuhause wird. Sie sieht die Juden in Deutschland als Botschafter Israels, die versuchen, politische und diplomatische Unterstützung zu leisten, um der iranischen Bedrohung Herr zu werden.
Schimon Peres gewann schnell die Herzen des Publikums. Im Gegensatz zu seinem Vor-Vorgänger Ezer Weizman (1996) vertrat er nicht die Meinung, dass man als Jude in Deutschland nicht leben könne. Besonders viel Anklang fand seine neue Definition der uralten Frage ›Wer ist jüdisch?‹: »Früher sagte man, Jude sei derjenige, der von einer jüdischen Mutter stammt. Heute würde ich sagen: Wer dafür sorgt, dass seine Kinder jüdisch bleiben, ist Jude.« In seiner Rede zählte er Israels Errungenschaften, seine demokratischen Werte auf und betonte das Streben nach Frieden. Peres drückte seine Erwartung aus, dass das jüdische Volk moralisch bleibe und zugleich technologisch an vorderster Front stehe. Außerdem pries er die grundsätzliche jüdische Unzufriedenheit als eine erstaunliche Kreativitätskraft.
Der Präsident betonte, dass der Antisemitismus ein Problem der Nichtjuden, nicht der Juden sei. »Das deutsche Volk hat gelernt, dass der Antisemitismus den Beginn seines moralischen Abstiegs darstelle und es bleibt daher wachsam, auch für seine eigene Zukunft.« Er erinnerte daran, dass Deutschland Israels bester Partner in Europa sei und die Zusammenarbeit beider Regierungen aus tiefen historischen und moralischen Quellen schöpfe.
Reaktionen Als die letzten Worte gesprochen waren, konnten einige im Saal gar nicht so schnell ihre Kopfhörer von den Ohren nehmen, wie sie Beifall spenden wollten. Charlotte Knobloch war mit dem zufrieden, was Peres nicht gesagt hatte: »Er hat nicht darüber gesprochen, dass alle Juden nach Israel gehen sollen«, sagte sie lachend. »Ich hatte noch darauf gewartet«. Und Lala Süsskind lobte vor allem Peres’ Äußerung: »Wir sind ein Volk.« Und Erez Menashe? Er war sehr beeindruckt von der Rede: »Ich stimme mit allem, was der Präsident gesagt hat, vollkommen überein.« Er freue sich auf die Tage in Berlin. Gespräche mit Bundespräsident Horst Köhler,
Gedankenaustausch mit Bundeskanzlerin Angela Merkel, Rede vor dem Deutschen Bundestag, Besuch der Gedenkstätte Gleis 17, Eröffnung des deutsch-israelischen »Zukunftsforums«. Nicht an allen offiziellen Terminen dürfe er teilnehmen, aber auch so sei es ein ganz besonderes Erlebnis: »In der Stadt gibt es so viel Emotionales zu erfahren«, sagt der Schüler. Zusammen mit seinen Freunden hier zu sein, das bedeute ihm sehr viel.