Herr Daboosh, Sie haben 2016 erstmals am »March of the Living« teilgenommen. Welche Eindrücke hatten Sie persönlich von der Veranstaltung?
Das war überwältigend. Es war sehr emotional, so viele Teilnehmer aus so vielen verschiedenen Ländern zu sehen, die alle die israelische Fahne schwenkten. Die Menschen bildeten eine Einheit, egal woher sie kamen. Dass man überall Gruppen trifft, egal an welchem Ort der Reise man sich gerade befindet, ist sehr bewegend. Da wird dann geredet, gesungen oder auch gebetet. Das ist sehr beeindruckend, auch für die Studenten und Schüler.
Aus welchem Grund besuchen junge Menschen die KZ-Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau?
Die Teilnehmer wollen die Vergangenheit nicht nur aus Büchern kennenlernen. Sie wollen unmittelbarer erleben, was im Nationalsozialismus passiert ist. Man muss sich natürlich psychologisch gut auf so eine Fahrt einstellen. Wir besuchen allerdings nicht nur die Orte des Schreckens und des Grauens, sondern zeigen auch, wie das jüdische Leben in Polen vor dem Nationalsozialismus aussah.
Reagieren Sie damit auf die Kritik, dass durch Veranstaltungen wie den »March of the Living« das Judentum zu stark mit dem Holocaust identifiziert werde und die positiven Seiten des polnischen Judentums ausgeblendet würden?
Nein, unser pädagogisches Konzept schließt schon seit vielen Jahren den Besuch von Orten ein, die nicht mit der nationalsozialistischen Judenvernichtung verbunden sind. Beispielsweise gehen wir in die Talmudschule in Lublin, besuchen in Warschau den alten jüdischen Friedhof, in Krakau eine alte Synagoge und das jüdische Viertel Kazimierz. Wir haben auch Kontakt zur dortigen jüdischen Gemeinde. Deren Mitglieder berichten den Jugendlichen davon, wie das jüdische Leben in Polen heute aussieht. Wir versuchen, uns nicht nur auf das Grauen zu fokussieren, sondern den Schülern und Studenten auch ein anderes Bild zu zeigen.
Der Historiker Alex Dancyg von der israelischen Gedenkstätte Yad Vashem hat den »March of the Living« im vergangenen Jahr im MDR kritisiert. »Auschwitz ist kein Ort für wehende Fahnen, kein Ort des Triumphes. Es ist ein Symbol für die Entwürdigung des Menschen«, sagte er dort. Wie reagieren Sie auf diese Kritik?
Die israelische Flagge tragen wir als Symbol für einen gemeinsamen Zufluchtsort. Während des Marsches vom ehemaligen Konzentrationslager Auschwitz I zum ehemaligen Vernichtungslager Auschwitz II-Birkenau schweigen wir. Natürlich kann es vorkommen, dass sehr junge Teilnehmer sich nicht durchgehend konzentrieren können und auch mal lachen und springen. Doch wenn die Teilnehmer bei der Zeremonie während der Veranstaltung hören, was Holocaust-Überlebende berichten, merkt jeder, dass Auschwitz kein Ort des Triumphes ist, sondern ein Ort, der Entsetzen hervorruft.
Diese Zeitzeugen werden bald nicht mehr leben.
Das hat einen wesentlichen Einfluss auf den »March of the Living«. Die Zeitzeugen machen die Veranstaltung authentischer, klarer und deutlicher. Wenn ein Überlebender spricht, sind die teilnehmenden Schüler und Studenten fassungslos, hängen gebannt an den Lippen der Erzähler. Wenn man einen Menschen vor sich hat, der den Holocaust selbst erlebt hat, kann man die Bedeutung viel besser begreifen. Schon jetzt sind viele Überlebende, die in der Vergangenheit dabei waren, zu schwach für die Teilnahme. Bald werden wir auf die Zeugen der Zeitzeugen angewiesen sein.
Mit dem Sozialarbeiter des Projekts 18+ der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland sprach Frederik Schindler.