Frau Grinberg, Sie kandidieren erneut für die Präsidentschaft bei der European Union of Jewish Students (EUJS). Wie blicken Sie auf das vergangene Jahr als Präsidentin zurück?
Es war ein sehr großes Jahr, wir haben viel erreicht, und ich habe viel gelernt. Es gab Erfolgserlebnisse, die in die Geschichte dieser Organisation eingegangen sind. So kann die EUJS Mittel an Studierendenverbände vergeben, und auf diese Weise können wir lokales jüdisches Leben finanziell unterstützen. Wir haben eine neue Jüdische Studierendenunion in Dänemark gegründet. Oder auch unsere Klage gegen Twitter, die wir gemeinsam mit HateAid eingereicht haben. Wir haben gerade erst angefangen, und jetzt geht es erst richtig los. Ich möchte sichergehen, dass das, was wir aufgebaut haben, auch passiert.
Sie haben die Klage gegen Twitter angesprochen, die Sie vor dem Landgericht Berlin eingereicht haben. Darin kritisieren Sie die mangelhafte Moderation von volksverhetzenden Inhalten auf der Plattform. Wie haben Sie sich vor diesem Schritt gefühlt?
Ich wusste sehr früh, dass dies etwas ist, was weitreichende Folgen haben kann. Und ja, es ist eine Klage in Deutschland. Aber: Für eine Organisation wie die EUJS ist das eben mehr. Denn dieser Fall kann genauso relevant für die spanische Studierendenunion werden oder für eine andere marginalisierte Gruppe. Mir war schon sehr bewusst, dass das etwas wirklich Krasses werden kann. Gleichzeitig war es für mich eine sehr interessante Zeit, in der wirklich nur eine Handvoll Leute wusste, was wir planen. Natürlich war ich auch nervös. Als es wirklich losging, war das ein sehr ermutigender Moment.
Welches Signal sendet diese Klage in die jüdische Studierendenschaft?
Sie zeigt, wie man so ein riesiges Problem, das Jüdinnen und Juden betrifft, angeht. Ich glaube, dass diese Klage eine Art Türöffner ist, um sich dem Thema Hassrede noch viel stärker zu widmen.
Und wie war das Feedback der Studierenden?
Von der Basis her war das Feedback sehr positiv. Und ich war auch positiv überrascht, dass es so viel Zuspruch und so viel Enthusiasmus für etwas gab, was eigentlich erst einmal sehr trocken wirkt – ein Rechtsfall. Es ist schwer zu kommunizieren, was die Relevanz eines solchen Rechtsfalls ist. Aber ich glaube, dass das eine Herausforderung war, die wir ganz gut geschafft haben. Wir haben den Studierenden klargemacht, worin das Potenzial in diesem Fall liegt. Und deshalb war die Reaktion so: »Und wie machen wir das jetzt in Italien?«
Wie beobachten Sie als EUJS-Präsidentin die Situation in Israel?
Natürlich ist das – wie für jede jüdische Gruppe und Community – ein großer Diskussionspunkt. Wir haben uns schon vor den Wahlen bezüglich der Prognosen kritisch geäußert. Die aktuelle Regierung ist aber auch nicht vom Himmel gefallen. Die EUJS war von Anfang an sehr laut, was das anbelangt. Für die EUJS sind das immer spannende Momente, weil es diese sehr dünne Linie gibt zwischen »Du bist am Puls« und »Du bist Vorreiter eines Trends«. Wir packen die Probleme auf den Tisch. Man muss aber auch anerkennen, dass die nationalen jüdischen Studierendenunionen sehr unterschiedlich sind. Manche halten sich aus dem Israel-Thema eher raus, manche sind eng damit verbunden. Einige sind politisch weiter links, andere politisch weiter rechts. Im Endeffekt kannst du nicht alle immer glücklich machen.
Sie setzen Themen, aber welche Themen werden von den Studierenden an Sie herangetragen?
Wir stehen in engem Kontakt mit den nationalen Studierendenunionen, haben zum Beispiel alle zwei Monate ein Treffen, bei dem wir die wichtigsten Themen diskutieren. Wir schauen, welche Blickwinkel es gibt. Manchmal ist es einfach nur ein Anruf von jemandem, der oder die mir sagt: »Hast du das und das gesehen, was gestern in Milan passiert ist? Lass uns was dazu machen.« Themen waren zum Beispiel moderne Gedenkkultur, Antisemitismus im Sport oder die Auseinandersetzung mit Menschenrechtsverletzungen gegen Kurden, die nicht von oben kamen.
Was wünschen sich jüdische Studierende eigentlich?
Wünsche sind natürlich sehr individuell, aber viele Themen, die jüdische Studierende betreffen oder sorgen, sind sehr global. Sei es die Klimakrise, sei es der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine. Die spannende Aufgabe der EUJS ist es, für globale Themen die junge jüdische Brille aufzusetzen oder eben für die jungen jüdischen Belange – wie Antisemitismus auf dem Campus – die politische und die europäische Brille aufzusetzen. Offene Gesprächsräume spielen da eine große Rolle.
Wie können Sie die jüdischen Studierenden erreichen, die nicht in einem Verband organisiert sind?
Unsere Projekte und Programme sind offen für alle Jüdinnen und Juden. Die müssen nicht aktiv in der jeweiligen jüdischen Studierendenunion ihres Landes sein. So können wir eine Community für die sein, die sich institutionell zum Beispiel nicht wiederfinden können. Das funktioniert in Deutschland vielleicht ein bisschen besser, aber in manchen Ländern ist es aufgrund verschiedener Gegebenheiten schwieriger: Das kann mit der religiösen Praxis zusammenhängen, manche Länder öffnen ihre Gemeinden nur für halachische Jüdinnen und Juden oder mit exklusiven Strukturen. Die EUJS ist ein Melting Pot.
Gab es im vergangenen Jahr ein Ereignis, das Sie aufgerüttelt hat?
Wir hatten dieses Jahr einen Moment, von dem wir sagten, der könne gefährlich werden. Für mich war das eine Art Wake-up-Call.
Was genau war das?
Mitglieder der Europäischen Studierendenunion (ESU) haben auf der Generalversammlung einen Antrag eingebracht, wonach sie BDS-Aktivitäten in ihren 40 Mitgliedsländern unterstützen wollten. Dieser Antrag war durchzogen von antisemitischer Sprache und hochproblematisch. Als ich davon erfahren habe, saßen sie schon in Georgien und hatten ihre Vollversammlung, und ich war 48 Stunden lang wach mit vielleicht insgesamt acht Stunden Schlaf und habe versucht, das geradezubiegen. Es gelang, aber mein Learning ist: Wären wir aktiverer Teil dieser Räume, wäre uns das erspart geblieben. Das ist für mich ein großes Thema für das kommende Jahr: zu schauen, wo wir stehen. Zu fragen: Wo werden wir am meisten benötigt?
Was hat Sie gefreut?
Die dänische Studierendenunion hat sich unter uns wiedergegründet. Wir sind komplett aus dem Post-Covid-Tief raus. Wir waren in über 150 News-Outlets. Unser Team ist gewachsen. Wir haben viele Projekte in der Planung, an die ich glaube und die mich jetzt schon freuen.
Sie haben gerade von Learnings gesprochen. Welche Erfahrungen haben Sie noch mitgenommen?
Lernerfahrungen sind immer das, was mit der Zeit kommt. Die EUJS sollte nicht noch einmal da durchmüssen. Es sollte von hier aus weitergehen. Eine Erfahrung, die ich aus dem vergangenen Jahr mitnehme, ist, dass wir noch relevanter für nationale nichtjüdische Studierendenunionen werden sollten. Denn auch Unis sind Orte, an denen Antisemitismus und Antizionismus mindestens schlummern. Wenn wir da nicht mittendrin sind, dann verpassen wir es.
Sie haben bei der Wahl am 18. August mit Emma Hallali eine Gegenkandidatin. Warum sollten die EUJS-Mitglieder Sie wählen?
Chuzpa, Zielstrebigkeit, Idealismus. Ich möchte das weiterführen, was wir erreicht haben. Ich möchte zeigen, dass sich konstante Weiterentwicklung und Stabilität perfekt ergänzen. Ich möchte, dass die EUJS noch relevanter auf dem europäischen Campus wird. Ich bringe viel Erfahrung mit. Eine Organisation zu leiten, ist mehr als nur irgendwie Sachen gebacken zu bekommen oder Programme geschafft zu haben. Es hat auch viel mit der Art und Weise von Führungskraft zu tun. Das hat viel mit Feingefühl zu tun. Zwischen Ambition und Fairness, zwischen Idealismus und Zielstrebigkeit, aber auch zwischen Kreativität und Vision.
Mit der EUJS-Präsidentin sprach Katrin Richter per Zoom.