Montagmorgen, der Berufsverkehr in Jena-Lobeda, dem Plattenbaugebiet der Stadt, ist vorüber. Von der nahen Autobahn dringen nun wenige Geräusche herüber. Ilja Rabinovitch schließt die Haustür auf. Nichts auf den Klingelschildern deutet darauf hin, dass hinter diesen Türen die Jenaer Gemeinde ihre Räume hat. »Antisemitismus sieht man nicht immer«, erklärt Rabinovitch diese Vorsicht. Er ist der stellvertretende Vorsitzende der Jüdischen Landesgemeinde und leitet die Gemeinde in Jena. Sie ist nach Erfurt mit 200 Mitgliedern die zweitgrößte in dem kleinen Bundesland.
M. ist eine von den Jüngeren in der Gemeinde. 32 Jahre alt ist sie, hat ihren Hauptwohnsitz seit 1999 in Israel und ist nun dank des Studentenvisums an der Uni Jena für »Deutsch als Fremdsprache« eingetragen. Demnächst schreibt sie ihre Masterarbeit, zudem unterrichtet sie dort Studenten im Fach Hebräisch. Das ist sozusagen ihr Job. Einmal in der Woche aber unterrichtet sie kostenlos – und zwar Mitglieder der Gemeinde. Hier kümmert sie sich um eine kleine Jugendgruppe. »Es muss unbedingt etwas für die Jugend getan werden«, ist Reinhard Schramm, der Vorsitzende der Jüdischen Landesgemeinde Thüringen, überzeugt. Deshalb ist er dankbar, dass M. andere jüngere Gemeindemitglieder stützt. Er hofft, dass dann doch einige mehr in Thüringen bleiben werden.
50Plus Das hohe Durchschnittsalter der Gemeindemitglieder in Jena bereitet dem 65 Jahre alten Rabinovitch Kopfzerbrechen. »Wo sollen denn die Kinder herkommen, die meisten Mitglieder sind 50 Jahre und älter.« Jetzt, da sie aus der Ukraine, aus Weißrussland und aus Russland endlich ein bisschen mehr angekommen sind in Deutschland und in der Gemeinde, einen schönen kleinen Saal für den Schabbat haben und drei ehrenamtliche Sozialarbeiterinnen und einen Malzirkel, müssen sie sich um die Zukunft sorgen. Ilja Rabinovitch wirbelt mit den Händen. Das macht er immer so, wenn er etwas besonders betonen will.
Plötzlich hält er inne. Ljudmilla Shuliak und ihr Mann kommen auf ihn zu. Der Mann sagt kein Wort, das übernimmt seine Frau. »Na, ein typisches jüdisches Ehepaar«, lacht Rabinovitch. Dann wird er ernst. Denn sie erzählt, dass ihr Mann morgen in die Uni-Klinik eingewiesen werden wird – die Augen. Es ist der Graue Star. Ob denn eine Mitarbeiterin anrufen könne, um sich nach dem Erfolg der Operation zu erkundigen? Ja, natürlich. So sieht Sozialarbeit in der Jüdischen Gemeinde öfter aus.
kiddusch-raum Auf dem Weg zum Kiddusch-Raum begegnen uns Maina Sychova und ihr Mann. Auch hier: Die Frau redet und lacht, der Mann lächelt. Doch wenn es um die Tora geht, darf in der Synagoge nur der Mann daraus vorlesen. »Das ist unsere Tradition. Ich bin gar nicht auf die Idee gekommen, dass Frauen aus der Tora lesen könnten«, räumt Ilja Rabinovitch ein. Rebekka Kurzbach aus Erfurt, die im vorigen Jahr ihre Batmizwa hatte, fände das hingegen gar nicht schlecht.
In dem kleinen Büro in Jena hat sich der Maler Boris Khakimov auf den Besucherstuhl gesetzt. Sozialarbeiterin Anna Kereev wendet sich ihm zu. Sie achtet nicht darauf, ob andere Gemeindemitglieder bereits auf ein Gespräch warten. Jetzt ist nur er wichtig. Sie nimmt sich Zeit. Die 52-Jährige hilft dem Künstler einen Auskunftsbogen für seine Reha-Klinik auszufüllen. Boris Khakimov redet viel lieber von seinem Malkurs als von solchen Notwendigkeiten. Stolz zeigt er Bilder an der Wand des Computer- und Kunstzimmers. Er freut sich über alle, die sonntags in die Gemeinde kommen und malen. Nicht nur die Kinder. »Da sitzt plötzlich die Großmutter da und malt das erste Mal in ihrem Leben.« Ilja Rabinovitch wirkt immer noch verblüfft, wenn er davon erzählt. Nie hätte er geglaubt, dass drei Generationen zu dem Maler kommen, um mit Pinsel und Stift und Kreide umgehen zu lernen.
Renovierung Während sie in Jena an diesem Montag richtig viel zu tun haben, ist es in der Jüdischen Gemeinde »Shalom« Nordhausen gerade ein wenig ruhiger als sonst. Kein Wunder: Irina Rymburh und Michael Godin sitzen zwischen Farbeimern und aufgestapelten Dingen. Die Sperrmüllmöbel sind entsorgt, bald kommen die neuen. Die Torarollen, die sie seit sechs Jahren haben, sind gut geschützt. Die Gemeinderäume im Stadtzentrum werden renoviert. Normalerweise bieten sie in diesen Räumen Sprach- und Kochkurse an, und zweimal im Monat gibt es Schabbat mit koscherer Küche. Geführt wird der Freitagsgottesdienst von zwei Studenten aus Jena, die »sich gute Kenntnisse in Israel geholt haben«, sagt Michael Godin.
In Nordhausen sind es nur sehr wenige. Gerade mal 35 Mitglieder zählt die Gemeinde. Und auch hier leben viele Alte, die Älteste ist jetzt 92. Da ist die Frage nach einem eigenen Friedhof beinahe zwingend. »Wir haben eine Ecke auf dem Friedhof der Stadt«, erklärt Irina Rymburh.
baustelle In Erfurt, wo 500 Gemeindemitglieder leben, ist der Jüdische Friedhof derzeit eine Baustelle. »Das war höchste Eisenbahn«, sagt Reinhard Schramm. Die Friedhofsmauer drohte einzufallen, und die Trauerhalle war nicht mehr benutzbar. Gut 800 Grabstätten hat der Friedhof zwischen Thüringenhalle, Justiz- und Sozialministerium. »Die reichen jetzt nicht mehr aus«. Schramm zuckt mit den Schultern: »Was soll man machen.«
Fast auf das Stichwort genau kommt Mitarbeiterin Ursula Ulbricht in das Zimmer ihres Chefs. In der Hand hält sie die Bauanzeige für die Erweiterung. Schramm soll unterschreiben. »Die muss heute noch raus, bevor wir beginnen«, sagt sie. Ja, sie haben die Erschließung neuer Grabflächen zu spät begonnen, wissen sie heute. Jetzt gibt es auf dem alten Friedhof nur noch zehn freie Stellen. Es wird reichen. Aber es wurde allerhöchste Zeit.
Die Erfurter Synagoge ist das religiöse Zentrum der Juden in Thüringen. Zwar gibt es auch noch in Mühlhausen und Berkach jüdische Gotteshäuser. Doch die werden inzwischen als Begegnungsstätten genutzt.
Kiddusch Reinhard Schramm ist ungeduldig. Er hat nichts gegen Traditionen. »Aber wenn wir als Gemeinde überleben wollen, dann müssen wir neue Wege gehen«, sagt er. Damit meint er beispielsweise einen Jugend-Kiddusch oder aber Hilfe für Junge, die in Thüringen Arbeit finden sollten. Und er will auch, dass die Juden in Thüringen sichtbarer werden. Ob das dank der Tage der Synagogalmusik passiert, wie im Sommer, während des »Yiddish Summer« oder während der großen Chanukkafeier: Alles ist willkommen. Auch das Theater und die Tanzgruppe. Nur zu leise darf es nicht sein.
Die Thüringische Landesgemeinde hat derzeit keinen Rabbiner, und Kantor Alexander Zakharenko wird wohl nur bis Mitte nächsten Jahres in Thüringen arbeiten. »Wir finden eine Lösung«, versichert Schramm gebetsmühlenartig. Dabei ist zu hören, dass eine Lösung vielleicht bereits gefunden ist. Aber zwei Dinge scheinen jetzt schon klar: Eine Frau als Rabbinerin wird in Thüringen nicht möglich sein, und allzu liberal darf der Rabbiner auch nicht aussehen. Wie sagte doch Ilja Rabinovitch in Jena: »Ein Rabbiner muss ganz orthodox aussehen. Aber er darf natürlich liberal denken.« Und er rudert dabei wieder mit den Armen.