Herr Lehrer, Sie sind gerade von einer Reise der ZWST und der fünf anderen deutschen Wohlfahrtsverbände aus Israel zurückgekehrt. Welche Eindrücke haben Sie mitgebracht?
Ich glaube, die Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege hat wieder sehr interessante, sehr aufschlussreiche Erkenntnisse gewonnen. Wir haben diesmal ein Programm gehabt, das sich natürlich an sozialen Einrichtungen orientiert hat, wie immer, wenn wir dort sind. Wir haben uns aber vor allem Fragen von Migration, von Flüchtlingen und Zuwanderung gewidmet.
Ich frage natürlich auch vor dem Hintergrund der aktuellen Ereignisse von Messerangriffen auf die Zivilbevölkerung.
Gott sei Dank sind wir davon nicht betroffen gewesen. Es gab bei einem Programmpunkt eine räumliche Nähe zu einem Attentat, das am Abend zuvor stattgefunden hat. Als wir am nächsten Tag am selben Ort waren, war business as usual, wie jeden Tag. Man hat nicht mehr gemerkt, dass es dort wohl ein Attentat gegeben hat. Wir mussten keine Programmpunkte absagen. Natürlich haben wir jeden Tag in den Nachrichten gesehen, was geschieht. In den Restaurants liefen ständig die TV-Geräte, und die Übertragungen waren ja manchmal live zu sehen.
Waren Ihre Begleiter aus Deutschland nicht beunruhigt?
Nein. Wir waren ja auch keine normale Touristengruppe. Wir stiegen morgens vor dem Hotel in den Bus ein und vor dem Ministerium, vor der Knesset oder vor der sozialen Einrichtung aus und gingen hinein. Da ergibt sich relativ wenig Gefährdungspotenzial. Zweitens waren die Anschläge bisher nicht gegen Ausländer oder Touristen gerichtet, sondern nach innen. Es wurden ja bislang ganz gezielt die Menschen an Bushaltestellen angegriffen. Wir haben davon nichts direkt mitbekommen.
Was es für die Israelis natürlich schlimmer macht, dass es sie an solchen weichen Zielen treffen kann …
Natürlich hätte es mich auch treffen können, etwa in Beer Sheva oder sonst wo. Aber die Gefährdung dieser Gruppe war doch relativ gering.
War die Reise als spontane Solidaritätsreise geplant?
Nein, sie war lange vorausgeplant. Wenn alle sechs Wohlfahrtsverbände mit sechs Präsidenten und Generalsekretären reisen, braucht man schon einige Zeit Vorlauf. Vor allem bei der Dauer, vier bis fünf Tage, die wir in Israel waren.
Mit welchen Ergebnissen kehren Sie zurück?
Ich glaube, am wichtigsten sind die Erkenntnisse, die wir im Bereich der Migration gewinnen durften. Wir haben mit dem langjährigen Direktor des Joint Distribution Committee, Arnon Mantver, gesprochen. Der Joint, die Jewish Agency und Arnon Mantver zeichnen verantwortlich für die Zuwanderung und Integration von Zuwanderern nach und in Israel. Ich glaube, alle Delegationsmitglieder waren sehr angetan von dem, was er aus seiner 19-jährigen Amtszeit berichtet hat. Wir haben nun vor, ihn nach Deutschland einzuladen, damit er uns einerseits bezüglich der Gemeinden, andererseits für das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge oder die Wohlfahrtsverbände berät, etwa, wie man in Deutschland speziell mit den Flüchtlingen aus Syrien oder aus dem Irak umgehen kann. Wir stellen uns vor, dass zu der Delegation aus Israel Arabisch sprechende, arabischstämmige Psychologen und Sozialarbeiter gehören, die ihren Partnern hier in Deutschland entsprechend helfen können. Anfangsfehler, die man macht, wenn man mit einer neuen Klientel zu tun hat, sollen tunlichst vermieden werden.
Welche sozialen Einrichtungen haben Sie besucht?
Wir waren beispielsweise in Jerusalem in einer Einrichtung für behinderte Menschen. Die Verhältnisse dort sind mit deutschen nicht zu vergleichen. Sie kommen als Besucher in eine Werkstatt, und es herrscht ein wenig Balagan: Alles geht kreuz und quer. Alle reden und rennen durcheinander. Trotzdem arbeiten die Menschen, und trotzdem funktioniert es. Man kann daraus Ruhe und eine gewisse Gelassenheit lernen. Zudem haben wir die Organisation Hatzalah kennengelernt. Sie besteht zu einem hohen Prozentsatz aus Freiwilligen – auf 4000 freiwillige Mitarbeiter kommen 50 hauptamtliche. Die Hatzalah-Mitarbeiter übernehmen bei häuslichen Unfällen, Schlaganfällen, Herzinfarkten, Verkehrsunfällen oder Anschlägen die Erstversorgung, da sie auf ihren Motorrädern schneller durch den dichten Verkehr von Jerusalem oder Tel Aviv kommen. Und sind dann so lange vor Ort, bis die Rettungssanitäter übernehmen.
Das Rote Kreuz könnte davon profitieren?
Die Zeiten, wann ein Rettungswagen vor Ort sein muss, sind in Deutschland zwar kürzer als in Israel. Aber es geht um die Idee, die dahinter steht, aus der man vielleicht auch hier Gewinn ziehen kann.
Unternehmen Sie solche Reisen regelmäßig?
Alle zwei oder drei Jahre fährt die ZWST gemeinsam mit den anderen deutschen Wohlfahrtsverbänden nach Israel. Wir hatten auch schon einmal einen jährlichen Rhythmus, wenn ich beispielsweise den Kollegen vorgeschlagen habe, im Jahr einer Intifada Israel einen Solidaritätsbesuch abzustatten. Diese Reisen waren dann aber nur kurz. In diesem Jahr war es schön, dass wieder ein Staatssekretär mitfuhr.
Erfährt die Reise damit auch eine Aufwertung?
Wenn eine Ministerin – es sind ja meistens Frauen in dem Amt – oder ein Staatssekretär gemeinsam mit den Wohlfahrtsverbänden so eine Reise unternimmt, ist das ein Zeichen der Wertschätzung, der Verlässlichkeit, der guten Partnerschaft, der guten Zusammenarbeit hier in Deutschland. Und das natürlich erst recht in diesem Jahr mit den 50-Jahr-Feiern zu den diplomatischen Beziehungen zwischen beiden Ländern. Da ist das schon ein gutes Zeichen. Wir sind der aktuellen Bundesregierung und den früheren Bundesregierungen dankbar für ihre Unterstützung und dafür, dass sie uns begleiten.
Welches Fazit können Sie aus der Reise ziehen?
Es ist generell immer ein Lernen voneinander. Wir haben auch immer wieder Gespräche mit den Freiwilligen aus Deutschland geführt. Die sozialen Einrichtungen haben zu einem hohen Prozentsatz Freiwillige aus Deutschland. Es beeindruckt schon, wenn sie mit diesen jungen Menschen reden und sie nach ihren Beweggründen fragen. Eine junge Frau hatte ihr Freiwilligenjahr sogar um ein Jahr verlängert, um in einer Einrichtung für autistische Menschen zu arbeiten. Den Staatssekretär hat interessiert, wie es mit der Vermittlung geklappt hat oder was zu verbessern wäre. Außerdem haben wir in der Knesset mit dem Vorsitzenden des Wohlfahrtsausschusses, Elie Elalouf, gesprochen. Das ist für die Menschen dort ein wichtiges Zeichen, wenn deutsche Wohlfahrtsverbände sich für sie interessieren und hören wollen, welche Einstellung Betroffene oder Angehörige von Schoa-Überlebenden zu Deutschland haben und diese andererseits froh sind über die Unterstützung, die Deutschland ihnen zuteilwerden lässt. Andererseits ist es für unsere Leute hier in Deutschland wichtig, das alles auch noch einmal mitzuerleben.
Mit dem Vizepräsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland und Vorstandsvorsitzenden der ZWST sprach Heide Sobotka.