Margot Friedländer drängt. Nach einigen Minuten Zwiegespräch mit Moderatorin Michaela Fuhrmann sagt sie: »Ich möchte gerne Fragen von Schülern haben. Ich habe ja gesagt, dass ich zurückgekommen bin, um euch zu bitten, Zeitzeugen zu sein. Wir können es ja nicht mehr lange sein. Bitte fragt – ich werde euch gerne antworten.«
Die 100-jährige Schoa-Überlebende gehört dieser Tage zu den am meisten gefragten Zeitzeuginnen des Landes. Bei der Online-Veranstaltung des Jüdischen Weltkongresses (WJC) am Montag dieser Woche stellt sich Friedländer den Fragen Fuhrmanns und den von rund 600 Schülern aus 30 Schulen deutschlandweit, die zugeschaltet sind.
ZDF-Dokumentation Einige Stunden später ist sie in der ZDF-Dokumentation zum 80. Jahrestag der Wannsee-Konferenz vor einem noch größeren Publikum zu sehen. Am Donnerstag wird die alte Dame schließlich im Plenarsaal des Europäischen Parlaments in Brüssel die Hauptrede zum Gedenktag an die Opfer des Nationalsozialismus halten.
Die Berliner Ehrenbürgerin hat die NS-Herrschaft zunächst im Untergrund und nach ihrer Verhaftung im KZ Theresienstadt überlebt. »Nach der Befreiung habe ich gehofft, dass ich meinen Bruder und meine Mutter wiedersehen würde. Erst viel später habe ich erfahren, dass meine Mutter sofort ins Gas gegangen ist und mein Bruder nur noch einen Monat gelebt hat.«
1946 wandert sie mit ihrem frisch angetrauten Mann Adolf – ebenfalls ein Schoa-Überlebender – in die USA aus. Erst 2010, mit fast 89 Jahren, zieht sie von Amerika wieder nach Berlin. Seitdem tritt Friedländer regelmäßig vor Schulklassen auf, gibt Interviews, schreibt Bücher.
Gedenktage Sie weiß, dass es nicht mehr viele Gedenktage geben wird, an denen Überlebende wie sie direkt Auskunft geben können über das Erlebte. Margot Friedländer erklärt, erzählt. Über ihre Zeit in Theresienstadt, als sie in der kriegswichtigen Glimmerstein-Verarbeitung eingesetzt war und wohl nur deswegen der Deportation entging. Über den Besuch einer Delegation des Roten Kreuzes im Lager. Über ihre Erfahrungen in New York.
»Wir wollen, dass so etwas nie wieder geschieht. Für euch, für euer Leben, für eure Zukunft.«
Margot Friedländer
Jede Frage beantwortet sie klar und ausführlich. Ob sie schon einmal mit ehemaligen Nazis Kontakt gehabt habe, will ein Schüler wissen. Ein anderer fragt, ob sie direkt nach dem Krieg mit Freunden über das Erlebte habe sprechen können. Beide Male lautet ihre Antwort: nein. Gefragt, was sie von Querdenkern halte, die sich als die neuen Juden bezeichnen, erwidert Friedländer: »Ich bin total unpolitisch. Ich kann diese Menschen aber nicht verstehen. Was suchen sie? Warum sind sie so? Was wollen sie? Warum sind sie so dagegen? Ich bin traurig, dass sie so sind.«
Am Schluss appelliert die Überlebende eindringlich an ihre jungen Zuhörer: »Wir wollen, dass so etwas nie wieder geschieht. Für euch, für euer Leben, für eure Zukunft. Ihr habt die Chance, etwas aus eurem Leben zu machen«, sagt sie. »Schmeißt sie nicht weg!«
Schuld Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden, ruft in einer Videobotschaft den Schülern zu: »Ihr sollt euch nicht schuldig fühlen – auch dann nicht, wenn eure Großeltern oder Urgroßeltern überzeugte Nazis und vielleicht damals an den Verbrechen beteiligt waren. Dafür könnt ihr nichts.« Jeder könne aber heute einen Beitrag in der Gesellschaft leisten, dass sich die Schoa nicht wiederhole.
WJC-Geschäftsführer Maram Stern betont, es sei wichtig, »dass wir die Erinnerung nicht als abgeschlossen betrachten, sondern uns ihr als Gesellschaft immer wieder stellen«. Die sozialen Medien seien einerseits ein Mittel, um jüngere Generationen zu erreichen. Andererseits gebe es gerade dort sehr viel Hass und Antisemitismus, den man nicht hinnehmen dürfe.
Die Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) sagt, es sei Auftrag aller, die Botschaft Margot Friedländers und der anderen Überlebenden weiterzutragen. »Schaut genau hin, wo Hass und Hetze beginnen. Macht den Mund auf, schweigt nicht, nehmt es nicht hin, wenn die Schoa verharmlost wird und Menschen verunglimpft werden.«